Frühjahrstagung der Landsmannschaft Westpreußen
Die im Tagungstitel genannten Jahreszahlen verweisen auf die drei zentralen Ereignisse, die sich vor 100, 80 bzw. 30 Jahren in die deutsch-polnische Beziehungsgeschichte regelrecht eingekerbt haben. Ihnen kommt für die gegenwärtigen grenzübergreifenden Beziehungen eine überragende Bedeutung zu ; und dass diese Bedeutung in den kommenden Jahren eher zu- als abnehmen wird, legen nicht nur die jüngsten Debatten über die deutsche Erinnerungskultur, sondern erst recht die geschichtspolitische Agenda der gegenwärtigen Regierung in Warschau nahe.
Auf ihrer diesjährigen Frühjahrstagung, die vom 10. bis zum 12. Mai in Warendorf stattgefunden hat und vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat wieder maßgeblich gefördert wurde, unternahm die Landsmannschaft Westpreußen den Versuch, diese historischen Zusammenhänge genauer zu klären. Dabei sollten, wie der Tagungsleiter, Prof. Dr. Erik Fischer, in seiner Einführung erläuterte, möglichst divergierende, auch kontrastive Positionen eingenommen werden, damit ein vorschneller Rückgriff auf vertraute, seit langem verwendete „nationale“ Deutungsmuster erschwert würde. In einer kontinuierlichen Entfaltung des Gedankens, dass – mit einem Wort von Roman Herzog – das „Entlügen“ der Geschichte erst den Zugang zu einer gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur ebne, gehe es auch bei dieser Konferenz darum, das Verständnis für die Komplexität und Prozesshaftigkeit der historischen Vorgänge zu entwickeln und zu vertiefen.
Den Eröffnungsvortrag über „Das Epochenjahr 1989 und seine Aktualität für die deutsch-polnischen Beziehungen“ hielt am Freitagabend Dr. Christoph Bergner (Halle a. d. Saale), der einerseits die Vorgänge vor der „Wende“ als DDR-Bürger erlebt und andererseits in den Jahren danach als Landtagsabgeordneter und Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt sowie als Mitglied des Deutschen Bundestages und Parlamentarischer Staatssekretär die nachfolgenden Prozesse im politischen Raum aus der Nähe verfolgt und aktiv begleitet hat. Im Unterschied zu den westlichen Kindern der „Revolution von 1968“ bezeichnete er sich selbst als einen „89er“ und ging differenziert den Triebkräften der damaligen Entwicklungen im Ostblock nach, die im Sinne eines Dominoeffekts zum Fall der Berliner Mauer geführt haben. Das Jahr 1989 charakterisierte er zudem als ersten positiven Erinnerungsort in der neueren deutsch-polnischen Geschichte – auch wenn sich die allzu optimistischen Erwartungen, dass sich die neue Partnerschaft zwischen den beiden Ländern ebenso rasch und intensiv entwickeln ließe wie ehemals die deutsch-französische Aussöhnung, als trügerisch erwiesen hätten : Die unerhörten Verbrechen der Wehrmacht in Polen wie auch die Tragödie der Flucht und Vertreibung aus den „wiedergewonnen“ Gebieten mussten notwendigerweise eine rasche Klärung der Beziehungen verhindern. Ausführlich ging der Referent, der in den Jahren von 2005 bis 2013 mit dem Amt des Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten betraut war, auch auf die Verpflichtung der deutschen Politik ein, ihre besondere Verantwortung gegenüber den heimatverbliebenen Deutschen wahrzunehmen, die heute als polnische Staatsbürger in Polen leben, und erläuterte hinsichtlich des Anspruchs auf die offizielle Zuerkennung eines Minderheitenstatus die Unterschiede zwischen der deutschen Minderheit in Polen und der „Polonia“ in Deutschland. Solche und vergleichbare Probleme konnten und können für Dr. Bergner allerdings nicht die Erfahrung des Jahres 1989 überschatten, in dem es gewesen sei, als habe (mit einer Formulierung des Zeithistorikers Klaus-Dietmar Henke) „die Realität die Phantasie überholt“.
Am Samstag eröffnete Martin Koschny M. A. (Münster) die Reihe der Tagungsvorträge. Er sprach über die „Absichten, Ziele, Grundlagen und Ergebnisse“ des Vertrags von Versailles und beschäftigte sich dabei eingehend mit dem Weg aus dem Krieg, dem Prozess der Friedensverhandlungen sowie den – letztlich fatalen – Nachwirkungen. Dabei konnte er beispielsweise zeigen, welche divergierenden Interessen die Siegermächte jeweils verfolgten und welchen Gefährdungen des gesamten Vorhabens daraus entsprangen. So wurde auch plausibel, dass die Besiegten von den Verhandlungen nicht primär aus Missachtung ferngehalten wurden, sondern dass bei ihnen die berechtigte Sorge bestand, die deutsche Delegation könnte die durchaus brüchige Geschlossenheit der Alliierten zum Wanken bringen. Insgesamt plädierte Koschny aufgrund der neueren Forschungen dafür, den Friedensschluss von 1919 neutraler, insbesondere weniger emotionsgeladen zu bewerten.
Prof. Dr. Frank Golczewski (Hamburg) sprach anschließend über „Die Wiedergeburt des polnischen Staates“ nach 123 Jahren. Dieser historische Vorgang stellt sich, von der polnischen Warte aus betrachtet, als Ergebnis vielfältiger, oft konkurrierender Einflüsse und Faktoren dar. Hierzu gehört beispielsweise die Frage, welches Staatskonzept im Blick auf die ethnische Homogenität, das Territorium oder auf Optionen einer weiteren imperialen Machtentfaltung überhaupt realisiert werden sollte. Zudem gab es Kräfte wie die junge Sowjetunion, gegen die Grenzziehungen erst noch durchgesetzt werden mussten. Zudem erläuterte der Referent Sakralisierungs- und Ritualisierungsgesten – wie die erstmals am 10. Februar 1920 von General Jόzef Haller vollzogene „Vermählung mit dem Meer“ –, denen gegenwärtig auch wieder eine große Bedeutung eingeräumt wird.
Die Perspektive der deutschen Seite nahmen daraufhin Alexander Kleinschrodt M. A. (Bonn) und Tilman Asmus Fischer (Berlin) ein, die sich in einem von ihnen gemeinsam geleiteten Workshop unter den Begriffen „Grenze – Orte – Konfliktlinien – Mythen“ mit der „Topographie Westpreußens in der Zwischenkriegszeit“ auseinandersetzten. Bei Betrachtung der nunmehr „viergeteilten“ ehemaligen Provinz Westpreußen entwarfen sie im Gespräch mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern eine kognitive Karte (mental map) der Region, die wesentlich von symbolisch hoch aufgeladenen Orten wie dem „Westpreußenkreuz“ in Weissenberg oder dem Abstimmungsdenkmal in Marienburg konturiert wurde.
Einem besonders heiklen Thema wandte sich danach Dr. Daniel Brewing (Aachen) zu. Er hatte es übernommen, den „Beginn des ‚Polenfeldzugs‘ als Bruch mit Grundregeln der Zivilisation“ zu erschließen. Dieses fraglos von Emotionen belastete und zu reflexartig vorgetragenen Argumenten verleitende Problemfeld konnte er dadurch mit der notwendigen Distanz in den Blick nehmen, dass er nicht über die (oftmals bekannten) Taten – bzw. Untaten – referierte, sondern vielmehr der Frage nachging, was bei deutschen Soldaten und Polizisten die Bereitschaft hat entstehen lassen, vom ersten Tag des Zweiten Weltkriegs an in Polen Zivilisten zu ermorden. Von diesem Punkt aus vermochte er dann differenziert Auskunft zu geben über die Ausbildung konkreter Feindbilder, über angstbesetzte Bedrohungsszenarien oder widersprüchliche Verfügungen auf der Kommandoebene, durch die die Entscheidungsunsicherheit der unteren Ränge noch erhöht wurde.
Am Abend rückte dann die Situation „Am Ende der ‚Feldzüge‘“ in den Fokus. Nun waren es die deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen, die im Wortsinne eine Stimme erhielten: Dr. Axel Dornemann (Sachsenheim) stellte Heimwehland, das von ihm 2018 herausgegebene umfangreiche „literarische Lesebuch“, vor, indem er die Struktur und Intentionen der Anthologie erläuterte und dann ausgewählte Texte vortrug. Sie stammten von Elisabeth Pfeil, Jo Mihaly, Ulrike Draesner, Günter Grass und Heinz Rudolf Kunze.
Am Sonntag fokussierte Dr. Justus Werdin (Berlin) im letzten Referat dieser Tagung nochmals das Jahr der „Wende“, und zwar unter der Fragestellung „Neue Perspektiven – und neue Schatten : 1989 als Wendemarke der deutsch-polnischen Beziehungen ?“ Er betrachtete die Zusammenhänge – wie schon Dr. Bergner in seinem Eröffnungsvortrag – vor dem Hintergrund der eigenen DDR-Provenienz, berichtete aber aus seiner jahrzehntelangen persönlichen Erfahrung mit der konkreten kirchlichen, interkonfessionellen Versöhnungsarbeit, bei der er mit polnischen Würdenträgern der katholischen Kirche eng kooperieren konnte, freilich auch weiterhin „weiße Flecken“ in den Geschichtsbildern auf beiden Seiten der Oder ausgemacht hat und dazu aufrief, durch fortwährendes zivilgesellschaftliches und kirchlich-ökumenisches Engagement die Nachbarschaft in der Mitte Europas weiter auszugestalten. – Dieser Appell und Dr. Werdins Bekenntnis, dass nichts dem Evangelium näher sei als Bürgerbewegung, leiteten bruchlos in die Schlussdiskussion über, in der die Referenten gemeinsam mit dem Auditorium ein insgesamt positives Resümee der Tagung zogen.
Joanna Szkolnicka