Westpreußen-Kongress der
Landsmannschaft Westpreußen
Der Westpreußen-Kongress des Jahres 2019 hatte „Konflikt, Feindschaft und
Verständigung“ zwischen Deutschland und Polen zum Thema. Im DEULA-Tagungshaus in Warendorf ließen die profilierten Referenten die Umrisse einer
komplizierten Beziehungsgeschichte erkennbar werden. Neben der großen Politik ging es aber auch um wechselseitige Stereotype, die Rolle der Zivilgesellschaft
und den deutsch-polnischen Kontakt als Spielfilm-Stoff.
Auch in einem vereinigten, Deutschland wie Polen umfassenden Europa ist es wohl eine Illusion, die Beziehungen zwischen beiden Ländern unbelastet angehen zu wollen. Leider gebe es in der Geschichte, wie Tagungsleiter Erik Fischer eingangs erläuterte, nahezu „unendliche Schichten von Konfliktpotential“. Dass 2019 in deutsch-polnischer Perspektive als ein „dreifaches Gedenkjahr“ gelten kann – 100 Jahre Versailler Vertrag, 80 Jahre seit Beginn des Zweiten Weltkrieges, 30 Jahre nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ in Europa – macht diese Lage nur umso deutlicher. Indem der Westpreußen-Kongress nun für drei Tage „Deutschland und Polen als historische Akteure im unteren Weichselland während des zerklüfteten 20. Jahrhunderts“ zum Thema machte, schloss er sowohl an die Frühjahrstagung, die sich auf die konkreten historischen Zusammenhänge der Jahre 1919, 1939 und 1989 gerichtet hatte, als auch an den Kongress des Vorjahres an, der nach dem „Ort“ der ehemaligen Provinz Westpreußen fragte.
Hans-Jürgen Bömelburg, Träger des Westpreußischen Kulturpreises 2019, hielt am Freitagabend den Eröffnungsvortrag. Der Gießener Historiker war in den letzten Jahren maßgeblich daran beteiligt, dass eine Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen geschrieben wird, und so bildete sein Referat eine vorzügliche Grundlegung des ganzen Kongresses. – Zunächst betonte Bömelburg den wachsenden Abstand zu einem „deutschen Westpreußen“ – und wer möchte daran zweifeln? „Es gibt heute eigentlich keine Zeitzeugen mehr“, stellte er fest, denn wer von den heute Lebenden die Erfahrung von Flucht und Vertreibung gemacht habe, sei damals sehr jung gewesen und habe zuvor kaum mehr ein eigenes Bild von der Region entwickeln können. Die Zeugnisse der Regionalgeschichte drohten nun „in den Archiven zu verstauben“, wenn man sie nicht neu erschließe, neue Zusammenhänge für sie finde. Belastbare Beispiele für solche veränderte Rahmen lieferte Hans-Jürgen Bömelburg gleich mehrere. So sei es heute möglich, die Geschichte Westpreußens von vornherein als Beziehungsgeschichte zu erzählen. Seit dem Mittelalter habe es in der Region etwa gleichgroße deutsch- und polnischsprachige Gruppen gegeben. Schon im 15. Jahrhundert seien Übersetzungen und Mehrsprachigkeit daher eine ständige Notwendigkeit gewesen: „Der deutschsprachige Danziger Kaufmann musste von Berufs wegen Polnisch verstehen.“ So seien damals im unteren Weichselland Aushandlungs- und Verständigungsprozesse in Gang gekommen, die man durchaus als frühe Vorläufer einer Europäischen Union ansehen könne.
Doch auch die entgegengesetzte Perspektive, die Konfliktgeschichte, findet im historischen Westpreußen ihre Gegenstände. Dafür müsse man z. B. eine Figur wie den Provinzial-Oberpräsidenten Theodor von Schön betrachten, der eine massive Verdrängung der polnischen Kultur betrieben habe. Die westpreußische Regionalgeschichte habe, so Bömelburg, „die Quellen, um eine Art Geschichte der Verhetzung deutlich werden zu lassen“, um also zu zeigen, wie Gruppen von Menschen durch andere Gruppen als feindlich oder minderwertig gebrandmarkt werden. Es liege auf der Hand, dass hier Einblicke zu gewinnen seien, die gerade heutige Konstellationen erhellen könnten.
Nicht zuletzt lohne es sich auch, auf die Ebene unterhalb der Provinz Westpreußen zu blicken und sich mit dem Eigensinn der Städte zu befassen. Der Thorner Rat beispielsweise habe sich 1772 entschieden gegen die Bildung des (wenig später so genannten) Gebiets „Westpreußen“ ausgesprochen, und sei auch zunächst – ebenso wie Danzig – ohnehin kein Teil der „neuen Akquisition“ des Preußenkönigs Friedrich II. gewesen. Die Städte der Region seien darüber hinaus in der Geschichte immer offen für Migranten gewesen und hätten kosmopolitische Geister wie den Philosophen Arthur Schopenhauer und den Verleger Erich Brost hervorgebracht. Am Rande erfuhr man hier auch, dass die Stadt Danzig zurzeit ein Stadtmuseum plant, in dem sich vielleicht manche dieser Perspektiven wiederfinden werden.
Nach diesen produktiven, historisch umfassenden Impulsen fokussierte der Direktor und Studienleiter der Academia Baltica, der Historiker Christian Pletzing, am Samstagmorgen den Blick auf die Erneuerungsbewegungen von „Vormärz“ und „Völkerfrühling“ im 19. Jahrhundert. Ihm ging es um die Frage, wie in Ost- und Westpreußen aus deutsch- und polnischsprachigen Preußen Deutsche und Polen wurden, die sich gegenseitig als fremd und auch feindlich betrachteten, wo doch das „altpreußische Landesbewusstsein“ die Ethnien keineswegs so deutlich unterschied. Als in den Städten der Provinz Preußen liberale Bürger Reformen forderten, stand ihnen auch das Bild der polnischen Freiheits- und Nationalbewegung vor Augen, wenngleich diese „Polenfreundschaft“ auf deutscher Seite auch, wie Pletzing schilderte, vor allem eine zweckorientierte, gegen Russland gerichtete Haltung gewesen sei. An der Frage, ob die Provinz Preußen „schon immer deutsch“ oder „nur teilweise germanisiert“ gewesen sei, schieden sich aber die Geister, und „Geschichte wurde zum Gegenstand politischer Auseinandersetzung, nicht nur etwas für Fachleute“. Hier trennten sich dann auch die Wege der polnischen und der deutschen Liberalen.
Im Beitrag von Beata Lakeberg, einer in München lebenden polnischen Historikerin, die dort am Institut für Zeitgeschichte tätig ist, konnte man im Anschluss einen Eindruck davon gewinnen, was eine „historische Stereotypenforschung“ zu leisten vermag. Auf diesem Gebiet geht es darum, zu rekonstruieren, wie Klischees und Vorurteile in die Welt kommen, zum Beispiel welche Charakterzüge angeblich typisch für Deutsche oder Polen seien. Die Haltbarkeit und das Gewicht, das solche Stereotypen oft haben, liegt für Lakeberg darin begründet, dass sie mit der Zeit eine regelrechte Resistenz gegen andere, realistischere Erfahrungen entwickelten: Wer an Stereotypen festhalten wolle, bemühe sinngemäß einfach die Faustformel, dass jede Regel ihre Ausnahme habe und deshalb von gegenläufigen Phänomenen unberührt bleibe. In der Zweiten Polnischen Republik könne man so einerseits beobachten, dass die deutschsprachige Bevölkerung – nun plötzlich zur Minderheit geworden – das Stereotyp von der „polnischen Wirtschaft“ pflegte, während die deutsche Presse in Polen die Zweite Republik als „Saisonstaat“ betrachtete, dessen Verfall unvermeidlich sei. In der polnischen Presse wiederum wurde im Gegenzug der Vorwurf erhoben, dass sich „die Deutschen“ eines aggressiven Nationalismus befleißigten. Ein Sonderfall, der quer zu allen Stereotypen stand, waren die in Polen erscheinenden deutschen Zeitungen, die sich gegen den Nationalsozialismus richteten. Für ihr Verständnis bildete der polnische Staat in den frühen 1930er Jahren einen Schutzwall sowohl gegen den Faschismus als auch gegen den Sowjetkommunismus.
Wie bei den vergangenen Tagungen wurde die Reihe der Vorträge am Samstagnachmittag durch einen Workshop mit verschiedenen Beiträgen und der Möglichkeit zur verstärkten Diskussion erweitert. Dabei ging es um den spannungsvollen Gegensatz zwischen „Diskreditierung und fairem Dialog“. Nach einem ideologiekritischen Einstieg des Workshop-Leiters Erik Fischer blickte Sybille Dreher, langjährige Funktionsträgerin in der Landsmannschaft Westpreußen, auf ihre reichen Erfahrungen zurück und zeigte anhand vielfältiger Textbeispiele, wie sich die Repräsentanten des Verbandes um Formen einer moderaten, ausgleichenden Ausdrucksweise bemüht hätten. Die Posener Studentin Magdalena Olejniczak, die aktuell im deutsch-polnischen Kulturaustausch und als ehrenamtliche Dolmetscherin arbeitet, wusste zu berichten, dass die Kontakte zwischen jungen Menschen aus beiden Ländern heute vor allem als „Event“ gesehen werden und Ideologien oder Beziehungsfragen dabei kaum mehr einen Platz hätten: Offenbar ist die Distanz zu den verwandten Lebensrealitäten der jeweils anderen geringer als zur eigenen nationalen Geschichte, die als weit zurückliegend empfunden wird. Adam Malinski schließlich, der als Deutschlehrer an einer Schule in der Nähe von Oborniki unterrichtet, zeigte sich verwundert, wie sehr dagegen in den polnischen Medien selbst Sportwettkämpfe mit historisch begründeten Stereotypen aufgeladen werden könnten, und riet dazu, angesichts solcher Aufheizung lieber einen kühlen Kopf zu bewahren.
Stefan Garsztecki, der an der Technischen Universität Chemnitz eine Professur für Kultur- und Länderstudien Ostmitteleuropas innehat, nahm danach den geschichtlichen Faden wieder auf. Er setzte bei den erzwungenen Migrationsbewegungen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ein, genauer gesagt bei den „Schicksalen von Deutschen und Polen und ihrer wechselseitigen Wahrnehmung“. Zahlen und Umfragen ergeben heute, dass jeder Vierte in Deutschland einen familiären Bezug zu Flucht und Vertreibung hat. Ähnlich ist es in Polen im Hinblick auf die zwangsweise Aussiedlung – die sogenannte Repatriierung – aus dem östlichen Teil des polnischen Staatsgebietes, das an die Sowjetunion ging. Daraus ergibt sich für Garsztecki die Frage, ob diese beiden Fälle nicht vergleichbar seien. Wenn man sie vergleicht – und das bedeute keineswegs auch eine Gleichsetzung – dann erkenne man, dass vor allem die individuellen Verlusterfahrungen ähnlich seien. Die Geschichte des deutsch-polnischen Dialogs über diese Fragen weise zwar immer noch eine Reihe blinder Flecken auf, sei inzwischen selbst aber schon sehr lange offen geführt worden und habe vieles erreicht. So kam Garsztecki zu einem Schlusswort, das zu einigem Optimismus Anlass gibt: „Die große Politik steht dem manchmal entgegen, aber ich glaube, dass die zivilgesellschaftlichen Kontakte gut sind.“
Dank Ewa Fiuk, Filmwissenschaftlerin aus Krakau, gab es am Samstagabend nicht nur einen Themen‑, sondern auch einen Medienwechsel. Die lange deutsch-polnische Dialoggeschichte bildet sich fraglos auch in Kino- und Fernsehfilmen ab. In Fiuks kenntnisreichem Vortrag konnte man erfahren, dass der deutsch-polnische Film geradezu eine eigene Gattung mit vielen unterschiedlichen Ausprägungen, aber auch gewissen Konstanten zu sein scheint. Zu letzteren gehört, dass bei den ihrerseits wieder recht stereotypen Liebesgeschichten vieler Filme fast ausnahmslos eine polnische Frau und ein deutscher Mann zusammengeführt werden. Solchem „Versöhnungskitsch“ stehen freilich auch nachdenkliche Filme wie Am Ende kommen Touristen (2007) gegenüber, in dem Regisseur Robert Thalheim eigene Erlebnisse aus seiner Zeit als Zivildienstleistender in Polen mit einfließen ließ. Mit der Vorführung einiger Ausschnitte aus dieser Produktion endete der zweite Kongresstag.
Der Politikwissenschaftler Klaus Ziemer, der bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2011 als Professor für Politikwissenschaft an der Universität Trier gelehrt hat und bis 2008 zudem Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Warschau war, wandte sich am Sonntagmorgen schließlich der jüngsten der drei Epochenzäsuren zu, der „Wende“ in den Jahren 1989/90. Auch hier trat wieder das Kino in Erscheinung, wenn auch nur als Metapher: „Der Film ist damals so schnell gelaufen, dass wir kaum noch sagen können, was sich in kurzer Zeit an Sensationen ereignet hat“, beschrieb Ziemer das Tempo der damaligen Ereignisse. Generell sei das „Bewusstsein, wie sich Polen in den vergangenen 30 Jahren entwickelt hat, in Deutschland wenig verbreitet“. Es sei viel erreicht worden in den Beziehungen, nicht zuletzt gebe es etwa sechzig deutsch-polnische Gesellschaften, „aber Missverständnisse und Asymmetrien sind dennoch unübersehbar“. Mit der Diskussion um das Zentrum gegen Vertreibungen sei auf polnischer Seite gewissermaßen die Geschichte in das Verhältnis zum Nachbarn zurückgekehrt. Das Thema habe in Polen eine große Kontroverse entfacht und sei über längere Zeit auf den Titelseiten der Zeitungen gewesen, während das Konzept wie die Problemstellung insgesamt in Deutschland, wie Ziemer anhand von Umfragen zeigte, vielen Menschen unbekannt geblieben sei. Heute nun brauche es eine neue Vision der zukünftigen deutsch-polnischen Beziehungen. Die Kontakte innerhalb der Zivilgesellschaft, an denen Ziemer selbst tatkräftig mitwirkt, seien dafür essentiell. Deshalb wirbt er regelmäßig dafür, dass man auch mit Vertretern und Anhängern der polnischen Regierungspartei PiS ins Gespräch kommt.
Bei der abschließenden Diskussionsrunde rief auch Stefan Garsztecki noch einmal dazu auf, über den Tellerrand zu schauen und „den Rahmen der eigenen Gesellschaft zu überschreiten“. Tagungsleiter Erik Fischer zeigte sich erfreut und auch erstaunt, dass bei diesem Westpreußen-Kongress alle Referentinnen und Referenten sowohl auf Deutsch wie auch auf Polnisch hätten sprechen können. Man darf daraus aber nicht den Schluss ziehen, dass eine Mitwirkung am deutsch-polnischen Kontakt nur auf diesem hohen Niveau an Weltläufigkeit möglich ist. Die Runde der Referentinnen und Referenten konnte aber gleichwohl einen plastischen Eindruck davon geben, welch wichtige Rolle Menschen innerhalb der Verständigungsbemühungen spielen, die einen engen Bezug in beide Gesellschaften haben – und dass es von ihnen gar nicht so wenige gibt.
■ Alexander Kleinschrodt