Zur Erinnerung an zwei westpreußische Olympia-Sieger

In diesem Monat finden in Rio de Janeiro zum XXXI. Male Olympische Sommerspiele satt. Dieses internationale Großereignis bietet der Redaktion einen willkommenen Anlass, um 120 Jahre zurück einen Zeitschnitt zu setzen: bei den Spielen der I. Olympiade, die auf Initiative von Pierre de Coubertin vom 6. bis zum 15. April 1896 in Athen stattfanden und mit denen es gelang, eine eigene olympische Tradition der Neuzeit zu begründen. Bei dieser Rückblende fällt der Blick unweigerlich auf zwei Turner aus Westpreußen, die sich in die Siegerlisten dieser Wettkämpfe gleich mehrfach einzutragen vermochten, und zwar auf den im Oktober 1869 in Danzig geborene Alfred Flatow und seinen Cousin, den gut fünf Jahre jüngeren Gustav Felix Flatow, der im Januar 1875 in Berent geboren wurde. Der Erinnerung an ihre Erfolge – gleichwie an ihr späteres Schicksal – wollen die folgenden Ausführungen dienen.

Das Alto­na­er Muse­um in Ham­burg hat im Jah­re 2002 in einer Aus­stel­lung das »Theresienstadt-​Konvolut« prä­sen­tiert und in einem Kata­log zugäng­lich gemacht. Bei einem Teil des »Kon­vo­luts« han­delt es sich um das soge­nann­te Prominenten-​Album, das die »Jüdi­sche Selbst­ver­wal­tung« des KZ The­re­si­en­stadt am 1. Janu­ar 1944 ange­legt und danach wei­ter­ge­führt hat­te. Unter den Pro­mi­nen­ten der Kate­go­rie B, d. h. bei den­je­ni­gen, die zwar gewis­se Ver­güns­ti­gun­gen erhiel­ten, aber kei­nen »Trans­port­schutz« genos­sen, fin­det sich der Ein­trag über »Felix Gus­tav Isra­el Fla­tow«, in dem neben der Ankunft in The­re­si­en­stadt (am 26. 2. 1944) büro­kra­tisch kor­rekt die Daten des Lebens­laufs auf­ge­führt sind – ein­schließ­lich der Bemer­kung: »1933 Wohn­sitz­ver­le­gung von Ber­lin nach Rot­ter­dam«. Zudem ver­zeich­net das Blatt, dass Fla­tow »1896 Olym­pia­sie­ger im Gerä­te­tur­nen« war, sich »am Zustan­de­kom­men der deut­schen Mann­schaft für die I. Olym­pia­de aktiv betei­ligt« und auch noch 1900 zu den Teil­neh­mern der II. Olym­pia­de in Paris gehört hat­te. – Ein ver­gleich­ba­rer Ein­trag fin­det sich für Gus­tav Felix‘ Cou­sin Alfred nicht. Er hat­te 1938 zwar, um die euphe­mis­ti­sche For­mu­lie­rung noch­mals auf­zu­grei­fen, sei­nen Wohn­sitz eben­falls in die Nie­der­lan­de ver­legt, war dort aber (anders als Gus­tav Felix) schon bald nach der deut­schen Beset­zung des Lan­des auf­ge­spürt und nach The­re­si­en­stadt depor­tiert wor­den. Dort war er bereits Ende Dezem­ber 1942, somit vor der Anla­ge des Prominenten-​Albums, umge­kom­men, wäh­rend sein Vet­ter, völ­lig aus­ge­zehrt und geschwächt, dort erst am 29. Janu­ar 1945, weni­ge Tage vor der Befrei­ung des Lagers, starb.

Die bru­ta­le Aus­gren­zung, die sie erlei­den muss­ten, und der schmäh­li­che Tod der zu »Reichs­fein­den« erklär­ten Sport­ler haben es ver­mocht, lan­ge Zeit auch die Erin­ne­rung an ihre Erfol­ge und Leis­tun­gen nach­hal­tig zu ver­dun­keln. Immer­hin gehör­ten sie aber zu den ers­ten Gro­ßen der Sport­ge­schich­te. Sie waren Mit­glie­der der zehn­köp­fi­gen Turner-​Riege, die 1896 am Bar­ren und am Reck sieg­te, und Alfred Fla­tow gewann zudem den Ein­zel­wett­be­werb am Bar­ren – wofür ihm hier eben­falls eine Sil­ber­me­dail­le (die in Athen noch höchs­te Aus­zeich­nung der Olym­pio­ni­ken) ver­lie­hen wur­de. Am Reck erkämpf­te er sich (als Zwei­ter) auch noch die Bron­ze­me­dail­le. Bei­de Cou­sins waren von nun an Per­so­nen des öffent­li­chen Lebens. Gus­tav Felix been­de­te sei­ne Kar­rie­re 1904, war aber wei­ter­hin in sport­li­che Akti­vi­tä­ten ein­ge­bun­den: Er nahm an Rad­ren­nen teil und besuch­te in den 1920er Jah­ren regel­mä­ßig Box­ver­an­stal­tun­gen, und zwar ins­be­son­de­re, wenn sein Sohn, der für den jüdi­schen Box­klubs Mac­ca­bi star­te­te, dort Kämp­fe bestritt. Alfred blieb, obwohl er dar­aus zu kei­ner Zeit ­einen Brot­er­werb mach­te, dem Sport noch erheb­lich enger ver­haf­tet: In der Ber­li­ner Tur­ner­schaft, der er seit sei­nem 18. Lebens­jahr ange­hör­te, über­nahm er die Auf­ga­ben des stell­ver­tre­ten­den Ober­turn­warts; zudem ver­öf­fent­lich­te er meh­re­re Schrif­ten zur Pra­xis und Metho­dik des Tur­nens. Wie schwer gera­de ihn die Auf­for­de­rung traf, »frei­wil­lig« aus der Tur­ner­schaft aus­zu­tre­ten, zeigt ein­drucks­voll die lako­ni­sche Äuße­rung, mit der er gegen­über deren Vor­sit­zen­dem, Rupert Nau­mann, des­sen ver­lo­ge­ne, angeb­lich auf sein »Ver­ständ­nis« hof­fen­de Erläu­te­run­gen quit­tiert hat: »Für den Aus­druck Ihrer per­sön­li­chen Gedan­ken und Gefüh­le dan­ke ich ver­bind­lichst. Über mei­ne eige­nen Gedan­ken und Emp­fin­dun­gen bit­te ich schwei­gen zu dürfen«.

Das tief­grei­fen­de »Ver­ges­sen« des jüdi­schen Lebens vor 1933 hat – wie in den meis­ten ande­ren Wissens- und Lebens­be­rei­chen – nach 1945 auch in der Sport­ge­schich­te für vie­le Jah­re ange­hal­ten. Erst seit den 1970er Jah­ren, z. B. durch die For­schun­gen und Ver­öf­fent­li­chun­gen von Hajo Ber­nett oder spä­ter­hin, in der Spät­pha­se der DDR, durch die Akti­vi­tä­ten von Vol­ker Klu­ge sind ver­wisch­te Spu­ren wie­der les­bar gemacht und gesi­chert wor­den. Dass es heu­te in Ber­lin nicht nur eine Flatow-​Oberschule (in Köpe­nick) gibt, dass der Deut­sche Turner-​Bund seit 1996 die Flatow-​Medaille ver­leiht, die frü­he­re »Reichs­sport­feld­stra­ße« in der Nähe des Olym­pia­sta­di­ons in »Fla­tow­al­lee« umbe­nannt wor­den ist oder seit 2012 sogar »Stol­per­stei­ne« vor den frü­he­ren Wohn­häu­sern der bei­den Sport­ler ange­bracht wor­den sind, – dies sind zwar durch­aus erfreu­li­che Anzei­chen einer sich ver­än­dern­den Erin­ne­rungs­kul­tur, die jedoch Bemü­hun­gen, das Geden­ken an die bei­den west­preu­ßi­schen Olym­pia­sie­ger Alfred und Gus­tav Felix Fla­tow zu fes­ti­gen, kei­nes­wegs erlah­men las­sen sollten.

Erik Fischer