Zum 250. Geburtstag von Johanna Schopenhauer
Die geschichtliche Bedeutung der am 9. Juli 1766 in Danzig geborenen Johanna Schopenhauer ist scheinbar über jeden Zweifel erhaben, war sie doch nicht nur die Mutter des berühmten Philosophen Arthur sowie der Autorin und Scherenschneiderin Adele Schopenhauer, sondern selbst eine in ihrer Zeit renommierte Schriftstellerin und Salonnière. Dies sind auch die beiden Kennzeichnungen, die ihrem Porträt im Westpreußischen Landesmuseum zugeordnet werden. Dort erscheint sie sogar in der kleinen »Walhalla« bemerkenswerter Persönlichkeiten, die die historische Größe und Wirkungsmacht Danzigs und Westpreußens dokumentieren sollen, – und zwar aufschlussreicher Weise neben der Eisschnellläuferin und Olympiasiegerin Helga Haase als einzige weitere Frau.
Eine vertiefende Frage nach der Bedeutung Johanna Schopenhauers ist allerdings nicht einfach zu beantworten. Ihre literarischen Werke haben bis vor einigen Jahren kaum mehr Leserinnen und Leser gefunden. Zudem scheint die Bezeichnung »Salonnière« schwerlich für eine überragende Position innerhalb der Kulturgeschichte zu qualifizieren. So liegt durchaus der Verdacht nahe, dass sie vor allem als Mutter eines Großen in Erinnerung geblieben ist, dass lediglich der Glanz seines Ruhms sie mit erhellt. Dabei erweist sich die familiäre Verknüpfung geradezu als fatal; denn aufgrund der brüskierenden Zurückweisung, mit der sie ihm nach den wenigen glücklichen Kindertagen in Danzig schon früh begegnet ist, sowie des tiefen, irreparablen Zerwürfnisses, das für die letzten beiden Jahrzehnten ihres Lebens zu einem Abbruch jeglicher Kontakte geführt hat, übernimmt sie unweigerlich die Rolle der »Rabenmutter«. Sicherlich war Arthur seinerseits im Umgang keineswegs unkompliziert und machte bei seiner Mutter keine Ausnahme von der Maxime, dass »vergeben und vergessen heißt kostbare Erfahrungen zum Fenster hinauswerfen« (wie es in den Parerga und Paralipomena lautet). Für die Nachwelt aber war der Ausgang dieser Partie schon bald gänzlich eindeutig. Friedrich Kummer, der Johanna Schopenhauer 1891 in der Allgemeinen Deutschen Biographie porträtierte, fand für das Ergebnis dieser Konkurrenz die folgende salomonische Formulierung: »Johanna […] verstand die Tiefe des Genius nicht, der in Arthur lebte, und sie starb zu früh, um durch das Urtheil der Welt von ihrem Irrthum bekehrt zu werden.«
Die Einschätzung, dass – um nochmals Kummer zu zitieren – »Johanna’s Bedeutung eine mit der Zeit ihres Wirkens vorübergehende« sei, hatte sich Ende des 19. Jahrhunderts bereits gefestigt und hielt sich weiterhin für lange Zeit. Ein gewisses Renommee konnte sie allenfalls noch innerhalb der Gattung der »Reiseliteratur« wahren, in der insbesondere ihr Bericht über die Reise durch England und Schottland (1818) weiterhin seine Leserinnen und Leser fand. Ansonsten blieb Johanna wohl im engeren Zirkel der Danziger bekannt, weil sie eine entschiedene Gegenerin Preußens war. Noch in ihrer Autobiographie Jugendleben und Wanderbilder, die, von ihrer Tochter herausgegeben, erst 1839 postum veröffentlicht wurde, erinnert sie sich noch daran, dass im Vorfeld der preußischen Übernahme von Danzig der »republikanische Sinn« der Bürgerschaft »mächtiger denn je« erwacht sei: »Die Bürger, gleichviel, ob vornehm und reich oder arm und gering, suchten einander in Beweisen ihrer patriotischen Gesinnungen zu überbieten.« Für ihren Ehemann Heinrich Floris Schopenhauer war die Okkupation sogar Grund genug, ungeachtet wirtschaftlicher Verluste Danzig zu verlassen und den Sitz seiner Familie in Hamburg zu nehmen. – Ein starkes Echo dieser entschiedenen Haltung findet sich übrigens noch in der Rede, die Donald Tusk bei der Entgegennahme des Karlspreises 2010 gehalten hat. Dort bekennt er im Blick auf Johannas Autobiographie: »Es fiel mir schwer, dieses Buch emotionslos zu lesen, da es voller Sympathie für Polen und voller Gefühle der Verbundenheit mit Polen ist.«
Eine erheblich größere, breiter gelagerte Aufmerksamkeit erlangte Johanna Schopenhauer erst, nachdem im letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts die Bilder in Frage gezogen wurden, die bis dahin von der meist eingeschränkten weiblichen »Schöpferkraft« in der Geschichte entworfen worden waren. Nun rückten allmählich Frauen wie die Malerin Angelika Kauffmann, die Dichterin Karoline von Günderrode oder Henriette Herz, die erste deutsche Salonnière, in den Fokus. In diesem erweiterten Kontext erscheint nun auch Johanna Schopenhauer in einer veränderten Beleuchtung. Sobald zum einen die Bereitschaft geweckt ist, sich neuerlich mit ihren Texten auseinanderzusetzen, eröffnen sie nicht nur ein wahres sozialgeschichtliches Panorama der Zeit, sondern überraschen auch durch die Originalität und Stilsicherheit der Formulierungen. Zum andern hat die genauere Beschäftigung mit der Kultur des Salons und der Etablierung von »Unterhaltung« Anfang des 18. Jahrhunderts zu der Einsicht geführt, dass der Esprit oder (im Sinne der Zeit) der Witz – eine scharfe Beobachtungsgabe, geistige Wendigkeit und verblüffende Schlagfertigkeit – offenbar für Frauen am ehesten die Möglichkeit eröffneten, ihre hohen Fähigkeiten zu nutzen und derart gesellschaftliche Anerkennung zu erreichen. Vor diesem Hintergrund erst wird verständlich, warum es Johanna Schopenhauer gelingen konnte, ab 1806 in ihrem Salon über längere Zeit so wichtige Persönlichkeiten wie Goethe und Wieland, Zelter und Falk oder Kügelgen und Fürst Pückler-Muskau zu versammeln. Zum dritten schließlich schärft sich der Blick für die Souveränität, mit der Johanna Schopenhauer ihre Begabungen einsetzt und entwickelt. Während sie sich im Bildungskanon einer höheren Tochter zunächst für das Zeichnen und die Malerei begeistert und sich, mit Polnisch und Deutsch aufgewachsen, intensiv mit Fremdsprachen beschäftigt hatte, sodann auf ihren Reisen Europa entdeckt und meisterlich die Kunst der Konversation zu beherrschen gelernt hatte, begann sie erst sehr spät mit der schriftstellerischen Tätigkeit. Die Vorbemerkung zu ihrer ersten Publikation, einer umfangreichen Darstellung und Dokumentation von Carl Ludwig Fernow’s Leben (1810), eröffnet sie – jenseits der üblichen Bescheidenheitsfloskeln – noch mit der aufschlussreichen Formulierung: »Furchtsam mit ungeübter Feder«; aber schon einige Jahre später wurde sie eine der ersten deutschen Berufsschriftstellerinnen, die ab 1819, nach dem Verlust ihres gesamten Vermögens, sogar auf diese Weise für ihren Lebensunterhalt zu sorgen vermochte.
Gerade heute lädt Johanna Schopenhauer dazu ein, ihre Biographie, ihre literarischen Arbeiten und weiteren Schriften aus diesem veränderten Blickwinkel heraus mit Respekt und Interesse zu betrachten. Solch eine Begegnung oder Wiederbegegnung dürfte sich allermeist lohnen und verspricht eine Reihe spannender Entdeckungen!
Erik Fischer