Der Westpreußen-Kongress 2023 fragte nach der historischen und aktuellen Bedeutung des Johann Amos Comenius
In gewisser Weise ›aus der Zeit gefallen‹ war der diesjährige Westpreußen-Kongress mit seinem Thema Johann Amos Comenius im Land an der unteren Weichsel: Interkulturelle Spuren eines universellen Gelehrten, Theologen und Pädagogen. Ursprünglich geplant für 2020, dem 350. Todesjahr von Comenius, vereitelte die Corona-Pandemie die Durchführung der Konferenz. Angesichts der Bedeutung, die einem der großen mitteleuropäischen Ireniker gerade in Zeiten des Krieges in Europa zukommt, hielt die Westpreußische Gesellschaft (WPG) jedoch an dem Vorhaben fest. Und so konnte die Schriftführerin der WPG, Heidrun Ratza-Potrÿkus, am 22. September jeweils 40 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Deutschland und aus Polen in Warendorf begrüßen und die dreitägige, durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat geförderte Tagung eröffnen.
Auf den ersten, freilich arg oberflächlichen Blick mag der im Titel der Tagung hervorgehobene lokale Bezug zum »Land an der unteren Weichsel« verwundern. Die gleichwohl hohe Relevanz dieser weit gereisten, zentralen Gestalt der europäischen Geistesgeschichte für diesen Kulturraum strich der Tagungsleiter und WPG-Vorstandsvorsitzende Professor Dr. Erik Fischer in seinen einführenden Worten heraus. Nicht nur, dass der 1592 im mährischen Niwnitz geborene Comenius von 1642 bis 1648 im seinerzeit schwedisch besetzten Elbing lebte und intensiv am dortigen Geistesleben Anteil nahm; sein Wirken im Königlichen Preußen war auch mit der interkulturellen und interkonfessionellen Beziehungs- und Konfliktgeschichte der Region eng verbunden. Insbesondere unter verständigungspolitischen Gesichtspunkten erscheint es, so Fischer, darüber hinaus fruchtbringend, den Wirkungen von Comenius im deutschen, polnischen wie gesamteuropäischen Diskurs nachzuspüren und diese bis in die Gegenwart hinein zu verfolgen.
Einen praktischen und lebensnahen Einstieg in die Kongressthematik bot der Freitagabend mit seinem thematischen Schwerpunkt »Der Comenius-Garten in Berlin – ein Raum zum Leben, Forschen und zur wissenschaftshistorischen Rekonstruktion eines Welt- und Menschenbilds«. Im Zentrum stand die Anfang der 1990er Jahre am Böhmischen Dorf in Neukölln entstandene Parkanlage, die ausgehend von Comenius Werk Pampaedia (Allerziehung) als eine dem menschlichen Lebensweg entsprechende Aufeinanderfolge von »Schulen« gestaltet ist. Den Garten und die dort im Geiste von Comenius geleistete Bildungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen porträtierte zunächst die RBB-Dokumentation Das Seelenparadies von Neukölln von Heiderose Häsler und Felix Krüger. Anschließend vertiefte die Leiterin des Gartens, die Literaturwissenschaftlerin und Wissenschaftshistorikerin Dr. Neele Illner M. A., in einem Gespräch mit dem Berichterstatter sowie den Tagungsteilnehmerinnen und Tagungsteilnehmern die Einblicke in die Konzeption des Gartens. Dabei schilderte sie anschaulich die Verschränkung von Wissenschaft und Pädagogik, bei der Kinder ganz im Sinne des comenianischen Denkens als Entdecker von Natur ernst genommen werden. Gerade an solch einem universalen Weltzugang wurden die hohen ökumenischen und interreligiösen Potenziale sichtbar, die sich im kulturell pluralen Umfeld des Gartens auf besondere Weise bewähren.
Die ersten drei Vorträge des zweiten Kongresstages boten eine historische Annäherung an Comenius, die sich von einer Makro- zu einer Mikroperspektive hin bewegte. So beleuchtete Professor Dr. Karin Friedrich, Historikerin an der schottischen Universität Aberdeen und Trägerin des Westpreußischen Kulturpreises 2023, zunächst anhand der »Konfessionelle[n] Wissensnetzwerke im frühneuzeitlichen Polen-Litauen« wesentliche Momente der Religions‑, Politik- und Geistesgeschichte des Königlichen Preußen im Zeitalter der Konfessionalisierung. In genau diesen Kontext stellte der Berliner Altphilologe und Lateindidaktiker Professor Andreas Fritsch sodann seinen Vortrag über »Johann Amos Comenius – Sein Lebenswerk im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges und seine nachhaltige Wirkung«, vor dessen Hintergrund der Theologe Pfr. i. R. Dr. Manfred Richter (Berlin) sich wiederum auf »Comenius Elbinger Jahre und das Colloquium Charitativum« konzentrierte.
Friedrich führte ihre Zuhörer in das Geistesleben der polnisch-litauischen Adelsrepublik ein, die bis in die Zeit des dortigen Wirkens von Johann Amos Comenius zwar nicht frei von interkonfessionellen Konflikten war, jedoch von seiner politischen wie rechtlichen Konstitution her durch grundlegende Prinzipien der Glaubensfreiheit geprägt wurde. Die Referentin warnte in ihrem Vortrag nachdrücklich davor, »Modelle der Konfessionalisierung von oben, wie sie oft in der deutschen Reformationsgeschichte angewandt wurden«, auf die Lage in Polen-Litauen zu übertragen, obschon es »Versuche von adligen oder städtischen Machteliten« gegeben habe, »von oben herab Religionspolitik zu betreiben«. Vielmehr warb sie für das historiographische »Bild einer multi- und interkonfessionalen Gesellschaft, in der Gestalten wie Comenius das Geistesleben bereichern konnten, bis die Krise des 17. Jahrhunderts – der Dreißigjährige Krieg und dann der zweite Nordische Krieg – diese intellektuellen und konfessionellen Freiräume wieder einengte oder gar zerstörte.«
Welche Bedeutung Comenius Werk unter den historischen Bedingungen des Dreißigjährigen Krieges gewann und in späteren Zeiten weiterhin entfaltete, zeichnete Fritsch anhand wichtiger Stationen der Lebens- und Wirkungsgeschichte nach. Eine paradigmatische Rolle kam dabei dem in unterschiedlichen Fassungen über die Jahrzehnte hinweg verwendeten Emblem zu, das Comenius als letzter Bischof der alten Böhmischen Brüder hat entwerfen lassen. Es versinnbildlicht seinen zentralen Wahlspruch: »Omnia sponte fluant absit violentia rebus« – »Alles fließe von selbst; Gewalt sei ferne den Dingen!« Von hier aus zog der Referent die Verbindungslinien zu den einschlägigen großen Werken des Pädagogen und Theologen: der Didactica Magna (Große Didaktik) sowie den Schriften Orbis sensualium pictus (Die sichtbare Welt) und Unum necessarium (Das einzig Notwendige). Dabei bot er zugleich immer wieder Ausblicke auf die Comenius-Rezeption der Zeitgenossen und nachfolgender Generationen.
Nach einleitenden Worten zur religiösen Situation in Comenius Wirkungsumfeld stellte Richter in seinem Vortrag zunächst die Vorgeschichte des Aufenthalts im Königlichen Preußen dar: eine durch hohe Mobilität geprägte Lebensphase, die Comenius vom polnischen Exil der Brüder in Lissa bis nach London führte. Vor dem Hintergrund der religionspolitischen Situation in Polen-Litauen sowie des Plans des Königs, ein vermittelndes Religionsgespräch aller Konfliktparteien in Thorn durchzuführen – das »Colloquium Charitativum« von 1645 –, ging der Referent näher auf Comenius’ Rolle bei den Vorbereitungen auf dieses wichtige Ereignis ein. Dabei gab Richter einen Überblick über die zu diesem Anlass verfassten Schriften, u. a. Von der Versöhnung der »Dissidenten« in den Glaubensfragen der Christen. Gerade an der Unversöhnlichkeit der konfligierenden konfessionellen Lager scheiterte jedoch schließlich das Konzil. Was dagegen blieb und nachhaltige Wirkung entfaltete, waren die ebenfalls in diese Jahre fallenden pädagogischen Arbeiten von Comenius und insbesondere sein Sprachlehrwerk Novissima Linguarum Methodus, auf dessen Bedeutung Richter abschließend verwies.
Im Anschluss an die geistes‑, lebens- und werkgeschichtlichen Ausführungen eröffnete ein von Fritsch geleiteter Workshop den Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Gelegenheit, eigene »Erfahrungen mit der Lektüre von Comenius-Texten« zu sammeln. Im Zentrum standen Auszüge aus der in den 1620er und 1630er Jahren entstandenen und 1657 schließlich gedruckten Didactica Magna. Durch die Lektüre und Diskussion der Texte wurde die Didaktik von Comenius in ihrem ganzheitlichen – mithin gesellschaftsreformerischen – Anspruch deutlich: So wollte er, wie er in der Einleitung programmatisch erklärt, »die Schulen ordnen und zur Blüte bringen, auf dass sie zu wahren und lebendigen Menschenwerkstätten werden, zu Pflanzschulen der Kirchen, Staaten und Hauswesen«. Darüber hinaus wurde der comenianische Ansatz auf seine humanistischen und theologischen Hintergrundannahmen hin durchleuchtet. Auf diese Weise traten die Konturen einer gleichsam ›optimistischen Anthropologie‹ hervor, die sich in einer Abschwächung der lutherischen Erbsündenlehre ausdrückte. So schreibt Comenius im fünften Kapitel: »Niemand möge uns also, wenn die Heilmittel der Verderbnis zur Beratung stehen, mit dem Einwurf der Verderbnis kommen, weil Gott dies ja durch seinen Geist mit Hilfe der verordneten Mittel hinwegräumen will.«
An die Arbeitsgruppe schlossen sich am Samstagabend und Sonntagmorgen wiederum drei thematisch miteinander verbundene Vorträge an, diesmal gruppiert um Fragestellungen der Comenius-Rezeption: Dr. Hartmut Rudolph, Theologe und früherer Leiter der Potsdamer Leibniz-Editionsstelle der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, erläuterte anhand von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) und Daniel Ernst Jablonski (1660–1741) die »Wirkungsgeschichte von Johann Amos Comenius« im »Diskurs der Frühaufklärung«. Professor Dr. Erik Fischer näherte sich Comenius als einer »europäische[n] Leitfigur« an, indem er die Geschichte und das Konzept der Stichting Comenius Museum im niederländischen Naarden, dem Ort der letzten Ruhestätte des Theologen, betrachtete. Einblicke in die Comenius-Rezeption im mitteleuropäischen Raum gewährte wiederum (digital zugeschaltet) Dr. Barbara Dobrowolska, Pädagogin an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Pädagogischen Hochschule in Siedlce, mit ihrem Vortrag: »Jan Amos Komeński in der zeitgenössischen polnischen Pädagogik – Stand der Forschung und Reflexionen«.
Rudolph nahm zunächst Comenius und Leibniz als zwei »Repräsentanten der europäischen Frühaufklärung« in den Blick. Dabei zeigte er neben Übereinstimmungen auch »konzeptionelle Unterschiede im Denken und Wirken dieser beiden herausragenden Gestalten« auf. Von diesem spannungsvollen Verhältnis ausgehend verfolgte er eine weitere, prosopographische Verbindungslinie über den Enkel von Comenius, den in Nassenhuben bei Danzig geborenen Berliner Hofprediger und Bischof der Brüder-Unität Daniel Ernst Jablonski. Der Referent würdigte ausführlich dessen Zusammenwirken mit Leibniz, »vor allem bei dem Bemühen, die getrennten Kirchen der Reformation, Calvinisten und Lutheraner, einander anzunähern und zu versöhnen«. Zwar ließen sich, so Rudolph, »in Jablonskis Wissenschaftsverständnis doch auch Hinweise auf eine gewisse Distanz gegenüber einer allzu planen frühaufklärerischen Perfektibilität finden« – allerdings sei festzustellen, dass »sich beide jedoch in ihrem trotz mancher Misserfolge unbeirrten aktiven Wirken für die Einheit der Kirchen« nicht unterschieden hätten.
Inwiefern Comenius wiederum bis in die Gegenwart hinein den Gedanken einer geistigen Einheit Europas zu verkörpern vermag, verdeutlichte der Vortrag von Fischer. Er zeichnete nach, wie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich aus dem tschechischen Volk heraus das Ansinnen entwickelt hat, einem der größten Söhne ihres Landes ein würdiges Andenken zu schaffen, und wie diese Bestrebungen schließlich zur Entstehung des Erinnerungsortes in Naarden führten. Hier war Comenius nach seinem Tod – wahrscheinlich auf Betreiben seiner Mäzene, der Familie de Geer – beigesetzt worden: Die Kapelle, in der sich das erst 1929 identifizierte Grab befindet, war bereits von 1933 bis 1937 in ein von tschechischen Künstlern gestaltetes Mausoleum umgewandelt worden. Seit 1992 befindet sich im Nachbargebäude zudem ein sehenswertes und klug konzipiertes Museum, das seine Besucher auf sinnfällige Weise über Leben und Werk des mährischen Denkers informiert.
Die fortwährende Präsenz von Comenius Schriften in der polnischen Pädagogik und insbesondere in der bildungsgeschichtlichen Forschung demonstrierte Dobrowolska anhand der jüngeren sowie aktuellen Fachliteratur. Einen besonderen Schwerpunkt legte sie dabei auf die Arbeiten der Comenius-Spezialistin Barbara Sitarska. Indem sie ihren Vortrag durch den Hinweis auf einen weiteren, von Sitarska in Niewęgłosz bei Radzyń Podlaski gegründeten Comenius-Garten abrundete, schloss sich zugleich der Bogen zum Beginn des Kongresses, der vom Neuköllner Projekt seinen Ausgangspunkt genommen hatte.
Dabei war der Schlussvortrag von Pfr. i.R. Dr.Justus Werdin (Frankfurt / Oder) gleichfalls von comenianischem Geist durchwebt, kreiste er doch um eines der zentralen Lebensthemen des großen Irenikers: die Einheit der Kirche. Der langjährige Referent des Berliner Missionswerks für grenzüberschreitende Ökumene und für Osteuropa hatte seine Ausführungen unter den Titel »Bewegungen und Erfahrungen: Ansätze zu grenzüberschreitender Ökumene« gestellt. Ausgangspunkt war die interkonfessionelle, zwischen Deutschland und Polen eröffnete Gesprächsinitiative: die »ökumenischen Konsultationen der Bischöfe an Oder und Neiße«. Die hier in Gang gesetzten Entwicklungen in der innerprotestantischen Ökumene – konkret zwischen der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen – beleuchtete er anhand der Gemeindepartnerschaft zwischen dem Berliner Dom und der Kirche St. Trinitatis in Warschau. Abschließend erörterte Werden die angestrebte Rückkehr des mittelalterlichen Paramentenschatzes an die Danziger Marienkirche – einen Prozess, den der Referent selbst als Beiratsmitglied begleitet.
Die von Werdin vollzogene Perspektivöffnung leitete dann in die Abschlussdiskussion mit den Referentinnen und Referenten über. Dabei wurde ein doppelter Grundkonsens deutlich: Einerseits war man sich einig, dass Comenius auch heute noch wichtige Impulse für die Verständigung sowohl zwischen den Konfessionen als auch zwischen den Völkern Europas zu geben vermag. Andererseits mussten die Anwesenden konstatieren, dass sich die unterschiedlichen geisteswissenschaftlichen Disziplinen gegenwärtig eher zurückhaltend mit Comenius befassen. Hier wäre, so die gemeinsame Sichtweise, eine stärkere Popularisierung seiner Lebens- und Wirkungsgeschichte wünschenswert, um das comenianische Denken in Kirche, Theologie und Zivilgesellschaft fruchtbar zu machen. Einen Beitrag hierzu mag der Kongress bereits erbracht haben, einen weiteren – und zudem nachhaltigen – wird die Westpreußische Gesellschaft leisten, die beabsichtigt, die Erträge des Kongresses durch das von ihr herausgegebene Westpreußen-Jahrbuch in naher Zukunft einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
■ Tilman Asmus Fischer