Zur Neuausgabe einer Publikation aus dem Jahre 1931
Mit Hermann Rauschnings umfänglicher Studie über die Geschichte der Musik und Musikpflege in Danzig wird ein Werk wieder leichter zugänglich gemacht, bei dem der Name des Autors einige Überraschung hervorrufen dürfte, denn Hermann Rauschning ist kaum als Musikwissenschaftler präsent, sondern vornehmlich als Politiker und entschiedener Kritiker des Faschismus in Erinnerung geblieben (DW 8/2017). Tatsächlich aber hatte sich Rauschning ursprünglich jenem Fach zugewandt und nach Studien in München und Berlin dortselbst unter der Betreuung des renommierten Ordinarius Hermann Kretzschmar 1911 eine Dissertation zur Musikgeschichte und Musikkultur Danzigs vorgelegt. Fast zwei Jahrzehnte später – Rauschning war inzwischen längst zu einem Akteur im politischen Raum geworden – fand er eine Gelegenheit, seine Doktorarbeit nochmals durchzusehen, sie tiefgreifend zu überarbeiten und zu erweitern. Auf diesem Wege gelangte er zu einer Monographie, die 1931 als 15. Band in die vom Westpreußischen Geschichtsverein herausgegebenen Quellen und Darstellungen zur Geschichte Westpreußens aufgenommen wurde und in der Danziger Verlags-Gesellschaft erschien.
Wenn diese Studie jetzt, weit mehr als 80 Jahre nach ihrer ersten Veröffentlichung, von der Copernicus-Vereinigung wieder publiziert worden ist, finden höchst aufschlussreiche Quellen und Dokumente, deren Originale in den Archiven inzwischen sogar zum Teil verloren gegangen sind, eine größere Verbreitung und können derart dazu anregen, die »Musik und Musikpflege« in Danzig unter neuen Fragestellungen zu erschließen. Zum einen verdienten es etliche der Kompositionen, auf die der Autor zu sprechen kommt, aufs Neue gesichtet und nach heutigen Kriterien analysiert und interpretiert zu werden. Zum zweiten eröffnen die ausführlich wiedergegebenen Schriftstücke mannigfache Perspektiven für sozialhistorische Untersuchungen, die beispielsweise der Verwaltung, Finanzierung und Qualitätssicherung einer städtisch wie kirchlich kontrollierten Musikausübung oder den fein ausdifferenzierten Hierarchien des musikalischen Zunftwesens nachgehen – oder sich den komplizierten Interaktionen zwischen denjenigen, die »Kunst« anbieten, und denjenigen, die wirtschaftliche Sicherheit und soziale Reputation zu vergeben haben, zuwenden wollen. Zum dritten lädt Rauschnings Konzept einer explizit »deutschen« Musikgeschichte dazu ein, diese Konstruktion im Blick auf alternative Ansätze z. B. der Kulturtransfer- oder der Interkulturalitätsforschung historisch zu prüfen und zu erweitern, wenn nicht zu revidieren.
Über solche Impulse hinaus könnte durch die Neuausgabe dieses Buches das Bewusstsein dafür geschärft werden, in welch hohem Maße Rauschnings Monographie die Signaturen der geistesgeschichtlichen Grundorientierungen und Umbrüche vom Kaiserreich bis zur Spätphase der Weimarer Republik trägt. Sie bildet deshalb mittlerweile auch selbst als Dokument der Forschungsgeschichte einen äußerst lohnenden Untersuchungsgegenstand.
Bei der Beschäftigung mit Rauschnings Musikgeschichte Danzigs sollten sich heutige Leserinnen und Leser aber vor allem vergegenwärtigen, dass ihr eigener Erfahrungsraum an einem wesentlichen Punkt deutlich von dem Erwartungshorizont abweicht, vor dem der Autor seine Studie verfasst hat. Für einen Musikhistoriker war es damals kaum vorstellbar, dass die Kompositionen, mit denen er sich aus rein historischen Interessen auseinandersetzte und die er der Fachwelt bekannt machte, jemals wieder einen Weg in das zeitgenössische Musikleben finden könnten. Bemühungen um eine authentische Wiederbelebung »Alter Musik« setzten überhaupt erst in den 1920er Jahren ein – und an die Möglichkeit, dass Tonaufnahmen von Werken eines lokal bzw. regional begrenzten Repertoires angefertigt würden, war 1931 erst recht noch nicht zu denken.
Heute hingegen ist die Danziger Musik nicht nur längst in die Kirchen und auf die Podien zurückgekehrt, sondern in der heutigen Medienlandschaft begegnet ein breites entsprechendes Angebot, das – regelmäßig in historischer Aufführungspraxis – beispielsweise die Danziger Tabulatur oder Orgelwerke von Paul Siefert oder Friedrich Christan Mohrheim ebenso umfasst wie Kantaten von Johann Jeremias du Grain oder Johann Daniel Pucklitz oder wie die »Passio Christi« nach Barthold Heinrich Brockes von Johann Balthasar Christian Freislich. Wer Rauschnings Monographie zur Hand nimmt, hat inzwischen somit die vorzügliche Chance, über die Geschichte der Musik in Danzig nicht nur detailliert zu lesen, sondern parallel dazu auch viele ihrer Werke eingehend hören zu können. Es lohnt sich, diese Möglichkeit zu nutzen und sich auf eine derart angenehme Weise mit einem vielgestaltigen Feld der Danziger Kulturgeschichte vertraut zu machen !
Erik Fischer
Hermann Rauschning
Geschichte der Musik und Musikpflege in Danzig. Von den Anfängen bis zur Auflösung der Kirchenkapellen
Danzig 1931 ( = Quellen und Darstellungen zur Geschichte Westpreußens. XV.), Neudruck Münster/Westfalen: Nicolaus-Copernicus-Verlag, 2017, XXI, 434 Seiten