Westpreußen-Kongress 2018
Mit dem Motto ihres diesjährigen Westpreußen-Kongresses vom 21. bis 23. September in Warendorf hatte sich die Landsmannschaft Westpreußen (LW) eine kritische Reflexion des eigenen Geschichtsbildes und dessen Zukunftsfestigkeit auf die Fahnen geschrieben : „Westpreußen – historische preußische Provinz und europäische Kulturregion?“ Immerhin nimmt dieses Thema die Doppelgesichtigkeit Westpreußens in den Blick, die in den vergangenen etwa 250 Jahren – unter je anderen Vorzeichen sowie jeweiligen nationalen Paradigmen folgend – von deutscher und polnischer Seite immer wieder negiert wurde und die es deshalb wieder nachdrücklich in Erinnerung zu rufen gilt. Hierzu bot die – vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat und von der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien durch das Kulturreferat Westpreußen geförderte – zentrale Kulturveranstaltung der LW einen trefflichen Anlass.
„Seit bald 100 Jahren“, erläuterte der Tagungsleiter, Prof. Dr. Erik Fischer, in seiner Einführung, „finden sich in den nachfolgenden politischen Formationen keine wirtschaftsgeographischen, territorial-administrativen oder kulturellen Strukturen mehr, die diese frühere Einheit ‚Westpreußen‘ ausgemacht haben – es sei denn, dass hier der ‚Reichsgau‘ in Anschlag gebracht werden sollte, der von den Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkrieges eingerichtet worden war.“ Hieraus resultiere für die polnischen Bewohner ebenso wie für – vor allem jüngere – Deutsche, dass sie kaum noch zu rekonstruieren vermögen, welchen kohärenten Raum Westpreußen einmal gebildet haben könnte. „In dieser schwierigen Situation erscheint es angeraten“, so Fischer, „nach einem unbelasteten, zukunftsorientierten Begriff Ausschau zu halten, und bei diesem Bemühen ist die Formulierung von der ‚europäische Kulturregion‘ entstanden.“
Die Potenziale, aber auch möglichen Konflikte eines solchen Konzeptes auszuloten, unternahmen die aus Deutschland, Polen und Tschechien angereisten Referenten gemeinsam mit mehr als 100 Teilnehmern in Vorträgen, Arbeitsgruppen und Podiumsdiskussionen.
Für den Eröffnungsvortrag hatte die LW den Landesbeauftragten und Leiter des Politischen Bildungsforums Brandenburg der Konrad-Adenauer-Stiftung, Stephan Raabe M. A. (Potsdam), gewinnen können, der unter dem Titel „Geteilte Geschichte – gemeinsame Erinnerung ?“ aktuelle Perspektiven einer deutsch-polnischen Verständigung aufzeigte. Während er für Deutschland eine „verbreitete Unkenntnis der polnischen Geschichte und eine Nichtbeachtung des spezifischen polnischen Schicksals im 19. im 20. Jahrhundert“ diagnostizierte, gelte das gleiche in Polen für das „Schicksal der deutschen Vertriebenen“. Notwendig für eine weitergehende Vertrauensbildung und Verständigung seien daher das gemeinsame Bemühen um „historische ‚Wahrheit‘, Pflege der Erinnerungen, Interesse an den Erinnerungen der anderen und Solidarität im Miteinander“.
Am Beispiel von „Bezeichnungen für die Region an der unteren Weichsel im deutsch-polnisch-kaschubischen Spannungsfeld“ bot Prof. Dr. Jörg Hackmann (Greifswald), Alfred-Döblin-Professor für osteuropäische Geschichte am Institut für Geschichte und Internationale Beziehungen der Universität Stettin, einen historischen Rückblick auf deutsche und polnische Versuche, die jeweilige (geografische und historische) Deutungshoheit über die Region zu behaupten und damit zugleich (geopolitische) Ansprüche zu manifestieren. Als Alternative zu „Westpreußen“ sei in Polen vor allem die Bezeichnung „Pomorze Gdanskie“ virulent. Doch scheine die einseitige Entscheidung für einen der Begriffe als gemeinsamen Namen den jeweiligen deutschen und polnischen Narrativen nicht gerecht zu werden. „Im Polnischen ist der Preußenname vor allem mit Bezug auf das Königliche Preußen (prusy Krolewskie) vermittelbar“, konstatierte Hackmann : „Umgekehrt wird ein Pommernname ohne Attribut im Deutschen nicht auf die Region an der unteren Weichsel bezogen. Pommerellen wäre hier die nächstliegende Alternative.“
Einzelne Aspekte der von Hackmann entfalteten Beziehungsgeschichte vertiefte Dr. Magdalena Sacha (Danzig) mit einem Blick auf die „inter-nationale Geschichte Westpreußens“. Diesen Ansatz zur Interpretation der regionalen Geschichte stellte die Mitarbeiterin des Kulturwissenschaftlichen Lehrstuhls der Universität Danzig zugleich als „Modell für ein zukünftiges gemeinsames Bild der untergegangenen Provinz“ zur Diskussion.
Im Folgenden hatten die Tagungsteilnehmer Gelegenheit, während zweier aufeinander folgender Workshops das Konzept einer „europäischen Kulturregion“ in der Praxis zu erproben. Hierzu brachen sie ins Westpreußische Landesmuseum (WLM) bzw. in die Altstadt des Tagungsortes Warendorf auf.
Im WLM erwartete sie Alexander Kleinschrodt M. A. (Bonn). Der Kulturwissenschaftler und Lehrbeauftragte für Probleme der transdisziplinären Theorien- und Methodenbildung an der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn fragte in einem einleitenden Vortrag nach konzeptionellen Möglichkeiten, „Westpreußen“ in einem Museum „auszustellen“. Dabei wurde deutlich, dass eine Region wie die als „Westpreußen“ bezeichnete sich einerseits sozusagen „wie von selbst“ mit einer Geschichte aus dort zu verortenden Ereignissen, Bauensembles und anderen Kulturgütern verbinden lässt, dass aber andererseits auch die Bezeichnungen „Westpreußen“ oder „westpreußisch“ ihre eigene Geschichte haben : Sie werden zu einem bestimmten Zeitpunkt eingeführt, werden dann zu einem selbstverständlichen Sammelbegriff und später zu einer durchaus problematischen historischen Kategorie. Diese beiden Faktoren müssten museologisch reflektiert und in einem Museum plausibel verdeutlicht werden. Anschließend bestand Gelegenheit, begleitet von Alexander Kleinschrodt sowie dem Stadt- und Museumsführer Klaus Artmann – als Vertreter der täglichen Museumspraxis – in der Ausstellung konkret zu erkunden, wie Westpreußen hier im Spannungsfeld zwischen der früheren deutschen Provinz und dem unteren Weichselland als „deutsch-polnischer Kulturregion“ präsentiert wird.
Für historische Querverbindungen zwischen dem Ausstellungsgegenstand „Westpreußen“ und dem Museumsort Warendorf sensibilisierte anschließend Sebastian Schröder M. A. (Münster), Doktorand an der Abteilung für Westfälische Landesgeschichte und dem Institut für vergleichende Städtegeschichte der Universität Münster. Bei einem Gang durch die Altstadt begab sich die Gruppe auf die Spurensuche nach einer „europäischen Kulturregion“ der Vormoderne und entdeckte dabei städtische sowie kaufmännische Beziehungen im Hanse-Netzwerk zwischen Westfalen und Westpreußen. In Westfalen wirkte sich die Hanse – gleichermaßen wie in Westpreußen – auf Handel und Wirtschaft aus. Städtische Bewohner beteiligten sich an den Geschäften in den hansischen Netzwerken. Zu ihnen gehörten Warendorfer Bürger und Kaufleute. Verwandtschaftliche und freundschaftliche Beziehungen führten sie bis in den Ostseeraum sowie das spätere Westpreußen.
Nachdem die Teilnehmer derart auf Tuchfühlung mit Warendorf gegangen waren, war es dem stellvertretenden LW-Bundesvorsitzenden Ulrich Bonk nach Rückkehr ins Tagungshaus eine besondere Freude, den Warendorfer Bürgermeister Axel Linke (CDU) zu begrüßen, der sich mit einem Grußwort an die Gäste in seiner Stadt wandte. Dabei betonte er nicht nur die Bedeutung des WLM für Warendorf, sondern bekundete zudem – als Kind einer ostpreußischen Familie – die persönliche Sympathie für die Arbeit der Landsmannschaft Westpreußen, der Stifterin der Kulturstiftung-Westpreußen, die ihrerseits die Trägerin des WLM ist.
Nachdem die vorangegangenen Beiträge immer wieder in unterschiedlichen Zugriffen das Verhältnis zwischen deutschen und polnischen Geschichtsbildern mit Blick auf Westpreußen zum Thema hatten, führte der Vortrag von Maja Konstantinović (Prag) zu einer hierüber hinausgehenden Weitung der Perspektive : trat neben das deutsch-polnische nun doch das deutsch-tschechische Verhältnis als Vergleichspunkt. Am Beispiel der Nichtregierungsorganisation „Antikomplex“ erläuterte die freiberufliche Projektkoordinatorin, Deutschlehrerin und Übersetzerin, wie in Tschechien durch zivilgesellschaftliches Engagement Spuren des Sudetenlandes sichtbar gemacht werden und daraufhin gemeinsam mit der Vertreibung der Sudetendeutschen zu einem Thema des gegenwärtigen historischen und allgemeinen Diskurses in Tschechien avancieren.
Beschlossen wurde der Kongress durch eine Podiumsdiskussion, welche die erörterten Einzelaspekte zusammenführte und – unter Leitung von Prof. Dr. Erik Fischer – auf die Zentralfrage hin verdichtete : „‚Westpreußen‘ – eine tragfähige historische Kategorie im zukünftigen verständigungspolitischen Dialog zwischen Deutschen und Polen ? “ Einleitend zeigte Dr. Magdalena Sacha auf, wie sich bis in die Gegenwart hinein die Bewohner des unteren Weichsellandes mit den heterogenen Identitätsfaktoren der Region auseinandersetzen und – teils sehr kleinräumige – Lokalidentitäten ausbilden. Auch Alexander Kleinschrodt M. A. betonte das Potenzial „Westpreußens“ für eine kontroverse aber eben auch kreative Debatte über deutsche, polnische und kaschubische Geschichtsbilder und Narrative. In diesem Sinne habe „Westpreußen“ – mit einer Kategorie, die in Diskursen der Denkmalpflege zunehmend Bedeutung gewinnt – einen hohen „Streitwert“. – Abschließend knüpfte der Autor dieses Berichts als Mitdiskutant an Eilert Herms’ Überlegungen zur Tradition als Kategorie der Sozialethik an und betonte die Bedeutung, die dem Erinnerungsort „Westpreußen“ als Kristallisationspunkt einer, teils schmerzhaften, deutsch-polnischen Lerngeschichte zukomme. Die Erinnerung hieran gelte es angesichts wachsender Nationalismen in Europa gerade heute wachzuhalten.
■ Tilman A. Fischer