Eine Tagung der Landsmannschaft Westpreußen nahm aktuelle ostpolitische Herausforderungen in den Blick
Die diesjährige verständigungspolitische Tagung der Landsmannschaft Westpreußen fand vom 5. bis zum 7. Mai in Warendorf statt und stand unter dem Titel Westpreußen zwischen Deutschland, Polen und Russland. Die Finanzierung der Tagung erfolgte durch das Bundesministerium des Innern und ermöglichte auch die Simultanübersetzung von Vorträgen und Diskussionen. Zusätzlich wurde die Veranstaltung dankenswerterweise aus Mitteln des Kulturrefererats für Westpreußen, Posener Land, Mittelpolen, Wolhynien und Galizien gefördert.
Gegenwärtig wird Ostmitteleuropa durch unterschiedliche Spannungen belastet : Zunehmend gewinnen nationalistische und antieuropäische Kräfte politischen Einfluss. Zugleich führt die Russische Föderation einen verdeckten Krieg in der Ukraine, und ihre imperialen Bestrebungen provozieren in den östlichen EU-Mitgliedsstaaten zusätzliche politische Verunsicherungen. Je belasteter die europäisch-russischen Beziehungen sind, um so wichtiger ist es, im innereuropäischen Diskurs eine konstruktive Zusammenarbeit der politischen Akteure zu verwirklichen. Dabei gilt es, seitens der europäischen Zivilgesellschaft auf zukunftsweisende Konzepte der europäisch-russischen Nachbarschaft hinzuarbeiten.
Mit dieser knappen Situationsschilderung öffnete Tilman Asmus Fischer (Berlin), der diese Tagung konzipiert und strukturiert hatte, den Problemhorizont, vor dem sich die Referate und Diskussionen entfalteten. Dabei sollte gerade das untere Weichselland als Ostseeanrainer, der von den aktuellen politischen Spannungen unmittelbar betroffen ist, ins Zentrum rücken und zugleich zum Ausgangspunkt für weiterführende Überlegungen genommen werden.
In einem ersten Zugriff ging es um das Verhältnis zwischen Deutschen, Polen und Russen, um »Begegnungen und Spannungen« zwischen diesen drei Völkern. Diese Leitfrage nahm zunächst Fritz Körber (Schwaig) auf, der als Altbürgermeister und Bezirkstags-Vizepräsident a. D. über einen reichen Erfahrungsschatz an mutigen wie erfolgreichen Verständigungsinitiativen verfügt. Seinem Engagement ist es beispielsweise zu danken, dass nicht nur der Bezirk Mittelfranken und die Wojwodschaft Pommern schon seit dem Jahre 2000 partnerschaftlich eng verknüpft sind, sondern dass ein Jahr später auch das Limousin dieser Verbindung beigetreten ist, so dass sich – europaweit erstmalig – ein »Kleines Weimarer Dreieck« ergab. Die vielen Projekte, die Fritz Körber auf den Weg gebracht und selbst energisch weiterverfolgt hat, ließen ein höchst positives und optimistisch stimmendes Bild von den Beziehungen zwischen Deutschen, Polen und Franzosen entstehen. Um so wichtiger war es dem Referenten, mit Willy Brandts Wort, dass nichts von selbst kommt und nur wenig von Dauer ist, auf die möglichen Gefährdungen solcher Partnerschaften hinzuweisen und dazu aufzurufen, im zivilgesellschaftlichen Engagment für die Verständigung und europäische Einigung nicht vorschnell nachzulassen.
Unter einem historischen Aspekt nahm Dr. Astrid von Schlachta (Regensburg) das Leitthema auf und zeigte am Beispiel der Mennoniten, wie eng »Begegnungen« und »Spannungen« ineinanderwirken können. Anhand plastischer sozialhistorischer Beispiele vermittelte die Vorsitzende des Mennonitischen Geschichtsvereins einerseits einen Eindruck von den Schwierigkeiten, die sich für den Einzelnen oft ergaben, sobald er den Prinzipien der strengen, traditionsorientierten Gruppendisziplin aufgrund von dynamischen Veränderungsprozessen, die sich in der Außenwelt abspielten, nicht mehr einzuhalten vermochte. Andererseits machte sie plausibel, dass die theologischen Grundüberzeugungen der Mennoniten – wie das Eidesverbot, der konsequente Pazifismus oder die gesellschaftliche Absonderung – die Gruppe als Ganze immer wieder in Konflikte führte. So lässt sich z. B. an der Siedlungsgeschichte im Land an der unteren Weichsel sehr genau nachvollziehen, dass es – nach den jeweiligen Druckverhältnissen – zunächst immer wieder kleinräumige Ausweichbewegungen gegeben hat, bis dann Ende des 18. Jahrhunderts die Zentralisierungsbestrebungen des preußischen Staates keine Alternativen zur Auswanderung nach Russland mehr ließen.
Zum Abschluss des ersten Themenbereichs eröffnete Tilman Rademacher (Düsseldorf) explizit eine Zukunftsperspektive, denn er sprach im Blick auf das von ihm gegründete Ideen-Netzwerk »Thinking Europe« über die »Vernetzung im vorpolitischen Raum«. Entscheidend für diesen Ansatz ist offenbar die Bereitschaft, über die engen, oft bürokratischen Limitierungen Europas hinauszudenken und neuerlich Kraft für Visionen zu gewinnen – wie utopisch sie beispielshalber im Blick auf die Etablierung einer zentralisierten Außen- und Verteidigungspolitik der EU gegenwärtig auch noch wirken mögen. Flankiert wird dieses Bemühen von der ausdrücklichen Hinwendung zur jungen Generation, der »Thinking Europe« eine deutlicher hörbare proeuropäische Stimme verleihen möchte.
Der zweite Komplex des Tagungsprogramms betraf »Das untere Weichselland im Spannungsfeld der Sicherheitspolitik«. Hier gab zunächst Stefan Scheller (Berlin) einen konzisen Überblick über die »Russische Destabilisierungspolitik in Ost- und Ostmitteleuropa«. Die sich hier ergebenden Fragen, die oftmals vordergründig in einem ideologisch geleiteten Streit zwischen »Putin-Verstehern« und »Putin-Verächtern« verhandelt werden, wurden auf ein solides Fundament nachprüfbarer Fakten gestellt und in einer sachlich entwickelten Argumentation diskutiert. An diese Darlegungen vermochte unmittelbar der Beitrag von Brigadegeneral a. D. Dr. Klaus Wittmann (Berlin) anzuschließen, der über »Polen und die Sicherheit der östlichen NATO-Mitglieder« referierte. Dank der doppelten Perspektive eines Offiziers, der lange Jahre im NATO-Hauptquartier tätig war und die Verbindungen auch in den politischen Raum hinein überblickt, sowie eines wissenschaftlich arbeitenden Historikers vermittelte dieser Vortrag tiefe Einblicke in die komplexen Fragen einer zufriedenstellenden Sicherheitsarchitektur, deren Stabilität durch die aktuellen Entwicklungen zunehmend gefährdet erscheint und immer neue – oft überraschende – Faktoren ins Kalkül ziehen muss. An der Notwendigkeit, das Vertrauen der östlichen Partner in die Garantien der NATO zu stärken – und zugleich den militärischen und machtpolitischen Eskalationsstrategien Russlands Grenzen zu setzen –, ließ der Referent dabei keinerlei Zweifel.
Einen wiederum historischen Aspekt der Sicherheitspolitik verfolgte schließlich Dr. Jürgen W. Schmidt (Potsdam), der an vier ebenso spannenden wie aufschlussreichen Einzelfällen »Geheimdienstliche Konflikte in Westpreußen im 19./20. Jahrhundert und deren politische Auswirkungen« erhellte. Dabei konnte er plausibel machen, dass die Vorgänge selbst oft Spielräume der Interpretation eröffneten, die entweder zur raschen Neutralisierung der drohenden Auseinandersetzung oder aber – und dies scheint eher den jeweiligen Interessen entsprochen zu haben – zum Schüren von Stimmungen und zur Inszenierung diplomatischer Verwicklungen genutzt werden konnten.
»Perspektiven für Osteuropa« sollten im letzten, dritten Teile der Tagung besprochen werden. Dieser Aufgabe unterzog sich zum einen der Missiologe Prof. Dr. Johannes Reimer (Pretoria), der »Gesellschaftstransformationen im ehemaligen Ostblock«, und zwar »in mennonitischer Tradition« erläuterte. Dabei legte der Direktor des Friedens- und Versöhnungsnetzwerkes der Evangelischen Weltallianz eine Schicht von staunenswerten Initiativen zur »Gemeinwesenarbeit (GWA)« in Russland frei, die häufig von protestantischen, insbesondere freikirchlichen Gemeinden und kirchennahen Werken ihren Ausgang nehmen. Sowohl seine Ausführungen zu der historischen wie aktuellen Bedeutung, die dem Protestantismus zukommt, als auch die ausführliche Schilderung der Konstitution und programmatischen Arbeit des regelmäßig tagenden allrussischen »Sobor«, des Konzils der »Evangelischen Bewegung«, gaben einen Eindruck von deren gesellschaftsveränderndem Potential – und veranlassten sicherlich etliche Teilnehmer, ihre standardisierten Vorstellungen von der einhelligen konfessionellen Orientierung Russlands an der Orthodoxie zu überdenken.
Zum anderen sprach Bernd Posselt MdEP a. D. (München), Sprecher der Sudetendeutschen Volksgruppe und Mitglied im CSU-Parteivorstand, über das Thema : »Im Osten nichts Neues ? Osteuropa zwischen alten Nationalismen und neuem russichen Machtstreben«. Mit seinem Vortrag stellte er die gesamte Thematik der Tagung noch einmal in einen übergreifenden Zusammenhang der internationalen Politik und der jüngeren – nicht zuletzt von ihm selbst miterlebten und mitgestalteten – Zeitgeschichte. Mit seinen Darlegungen zu den beiden »Krisenbögen« – dem post-sowjetischen wie dem postosmanischen – verdeutlichte er nochmals, dass die integrativen Kräfte in der EU jede nur denkbare Unterstützung verdienen, wenn nicht überlebenswichtig sind. Dieser fulminante Beitrag setzte einen angemessenen, stimmigen Schlusspunkt unter eine Tagung, die dem gemeinsamen deutsch-polnischen Nachdenken über die aktuellen ostpolitischen Herausforderungen ein vorzügliches Forum geboten hat.
DW