Zum 200. Geburtstag von August Semrau,
einem Mundartdichter und politischen Journalisten
aus Westpreußen
In Groß Jenznick, wenige Kilometer südöstlich von Schlochau gelegen, wurde August Semrau am 25. September 1816 geboren. Nachdem er in Culm das Gymnasium absolviert hatte, führte ihn sein Studium über Berlin ab 1841 nach Breslau, wo er eine neue Wahlheimat fand. Gleichwohl blieb er Westpreußen verbunden, denn dort, in Konitz, veröffentlichte er 1845 eine kleine Sammlung Plattdeutscher Gedichte, die 1873 und 1891 neuerlich erschien, und auch nach dem Tode ihres Autors (am 12. September 1893) wurde sie, betreut von Semraus Sohn Max, einem bedeutenden Kunsthistoriker, im Jahre 1908 nochmals publiziert. Dieses Bändchen hat gewiss dazu beigetragen, dass Semrau als westpreußischer Dichter nicht vergessen worden ist. Sein Wirken ist aber erheblich breiter angelegt, und so kann die 200. Wiederkehr seines Geburtstags dazu anregen, ihn von einer höheren Warte aus in den Blick zu nehmen.
August Semraus Lebensweg nach dem Ende seines Studiums lässt sich gut überschauen. Dazu verhilft auch der jüngst (2014) erschienene Eintrag im Biographischen Lexikon der Deutschen Burschenschaft von Helge Dvorak. – Semrau wandte sich 1844 dem Journalismus zu, trat früh mit einer Vielzahl von Artikeln hervor und wurde ab 1845 auch politisch aktiv. Dabei verband sich sein mutiges kritisches Engagement stets mit publizistischen Aktivitäten. In einer von restaurativen Kräften geprägten Zeit dauerte es zwangsläufig nicht lange, bis Semrau in den Fokus der Staatsmacht geriet. Deren Attacken, die er zunächst noch überstand, hielten ihn jedoch nicht davon ab, weiterhin klare Positionen zu beziehen und sie auch öffentlich zu äußern. Folgerichtig wurde er im sogenannten »Breslauer Mai-Prozess« von 1850 wegen Beteiligung an der Breslauer Reichsverfassungserhebung angeklagt und zu drei Jahren Festungshaft verurteilt.
Dieser Eingriff des autoritativen Staats zeitigte selbstverständlicher Weise weitere Konsequenzen. Semrau wurde nach seiner Entlassung für drei Jahre unter polizeiliche Aufsicht gestellt und bemühte sich, seinen Lebensunterhalt als Fotograf und als Inhaber eines Zigarrengeschäfts zu verdienen, begann aber schon 1855 wieder zu publizieren, wenn auch zunächst unter einem Pseudonym. Ab 1859 scheinen sich die politischen Rahmenbedingungen insgesamt derart verbessert zu haben, dass er wieder öffentlich zu agieren vermochte. Er wurde Chefredakteur und (zusammen mit Moritz Elsner) Herausgeber der Breslauer Morgenzeitung und konnte diesen Posten noch für 31 Jahre ohne weitere Probleme innehaben.
Solch eine spannende Biographie, die mit ihren Auslenkungen für das 19. Jahrhundert nicht untypisch ist, regt dazu an, genauer nach dieser Persönlichkeit zu fragen, sie wenigstens etwas näher kennenzulernen. Dies ist bei Journalisten oft schwierig, weil etliche Zeitungen noch nicht digitalisiert vorliegen und nur durch Archivstudien zugänglich sind. Glücklicherweise sind aber zwei gedruckte Quellen greifbar, die die Möglichkeit gewähren, den Autor selbst gleichsam zu Wort kommen zu lassen und damit einen kleinen authentischen Eindruck von seiner spezifischen Diktion, seinem schriftstellerischen Vermögen und seinen staatspolitischen Absichten vermitteln zu können.
Das erste Fragment stammt aus der Publikation Eilf Kapitel gegen Professor Dr. J. B. Baltzer oder die »gute« Presse auf dem Armensünderbänkchen, die 1845 in Breslau gleich in mehreren Auflagen gedruckt wurde. Schon der Beginn dieser Streitschrift lässt nachempfinden, dass es in Breslau kein Vergnügen gewesen sein dürfte, von einem Schriftsteller von solch polemischer Kraft und sprachlicher Virtuosität angegriffen zu werden.
Lieber Leser, bist Du heuer nicht auf der Theaterredoute gewesen und willst Du Dir nachträglich noch einen lustigen Tag machen, so kauf Dir des Fürstbischöflichen Consistrorialraths und Prosynodal-Examinators, ordentlichen öffentlichen Professors an der katholisch-theologischen Fakultät zu Breslau, Dr. J. B. Baltzer’s jüngst erschienene Broschüre: Preßfreiheit und Censur. Sie kostet 10 Sgr., also nur den vierten Theil des Eintrittspreises zur Redoute; und wenn Du dort nur niedliche Luxusgegenstände gewinnen konntest, so gewinnst Du hier Dinge von bleibendem Werthe. Bedenk Dich also nicht länger; amüsiren wirst Du Dich, denn das Büchlein ist lustiger, als jene forcirte Theater-Narrethei. Schau mal flüchtigen Blicks hinein in das Faschingstreiben der Baltzerschen Sätze – heidi, wie das koboldet, kapriolt, beißt, schlägt, rast, grinst!
Das zweite Fragment stammt aus einer Schrift, die nur zwei Jahre später – und bereits unter dem Eindruck staatlicher Verfolgung – entstand: Das Fürstensteiner Fest, die Beschreibung desselben und seine Folgen nebst einer Darstellung der wegen Entweichung polnischer Insurgenten geführten Untersuchung (Bremen 1847). Hier tritt seiner Leserschaft ein philosophisch gebildeter, abwägender, hellsichtig argumentierender und verantwortlicher Staatsbürger gegenüber:
Wer mich und meine politische Ansicht kennt, weiß, daß ich der entschiedenste Gegner des sogenannten Communismus bin, der, nachdem er ganz nach dem Grundsatze der geistlichen Orden, dem Einzelnen das Eigenthum abgenommen und zum Wohle der »Gesellschaft« confiscirt hat, uns in die Schnürstiefel eines unsinnigen Systems einzwängen, und wie zusammengekoppeltes Vieh auf die Weide schicken will. Auch so unsinnig bin ich nicht, das Heil von einer Ochlokratie zu erwarten. Aber das ist meine feste Überzeugung, daß die bewußten Elemente im Staatsleben sich nicht eher eines freien und in der Freiheit gesicherten Zustandes erfreuen werden, bis nicht das hohläugige leibliche Elend und was mit ihm zusammenhängt, die Geistesfinsterniß absorbirt und in den organischen Zusammenhang mit dem Staate gebracht ist.
Vor dem Hintergrund dieses Lebens und Wirkens lässt sich präziser erkennen, dass sich Semrau auch als Mundartdichter von seinen politischen Vorstellungen und Zielen hat leiten lassen. Seine plattdeutschen Gedichte stehen offenbar im engen Zusammenhang mit der Situation Mitte der 1840er Jahre: Er gibt denen, die im »leiblichen Elend« leben, nicht nur eine Stimme, sondern macht ihre Sprache auch quasi literaturfähig, schlüpft selbst in die Rolle des »Bauern mit dem Kopf voll Stroh«, weil der offenbar viel unverbildeter und klarer zu urteilen vermag als die von Interessen und Machtbedürfnissen geleiteten Städter. Und er bezieht in dem hier mitgeteilten Gedicht, einer Reaktion auf die Rheinkrise von 1840/41, in der solche emphatisch-nationalistischen Lieder wie die »Wacht am Rhein« entstanden, eine eindeutig liberale und abwägende Position: für ein entschiedenes Vertreten der eigenen Interessen, aber auch für ein maßvolles Verhalten, bei dem der »Freede« nicht aus dem Blick gerät – und somit gegen jede übertriebene, letztlich chauvinistische Propaganda. Gerade das plattdeutsche »Contre-Rheinlied« gibt somit zu erkennen, dass – metaphorisch gesprochen – Breslau und Konitz für August Semrau stets eng benachbarte Städte gewesen sind.
Erik Fischer