Die unter­schied­li­chen ter­ri­to­ria­len For­ma­tio­nen, die sich his­to­risch im Land an der unte­ren Weich­sel her­aus­ge­bil­det haben, kön­nen in einem ein­füh­ren­den – und mög­lichst über­schau­ba­ren – Text nicht detail­liert dar­ge­stellt wer­den. Statt­des­sen soll die­ser Pro­zess anhand von nur sechs Kar­ten­skiz­zen erschlos­sen wer­den, die jeweils ein­zel­ne Pha­sen die­ser Ent­wick­lung bei­spiels­haft veranschaulichen.

Das ers­te Skizzen-​​Paar soll einen Über­blick über die Vor­ge­schich­te der nach­ma­li­gen Pro­vinz West­preu­ßen ermöglichen.

I/​​1 Das Ter­ri­to­ri­um des Deut­schen Ordens

Die­se Kar­te gibt einen Ein­druck vom Ter­ri­to­ri­um des Deut­schen Ordens, das im Wesent­li­chen der Aus­deh­nung der spä­te­ren Pro­vin­zen Ost- und West­preu­ßen ent­sprach. Mit kai­ser­li­cher und päpst­li­cher Bil­li­gung begann der Orden 1231, das maso­wi­sche Kul­mer­land und das Gebiet der Pru­ßen öst­lich der unte­ren Weich­sel zu erobern. Die in sie­ben Jahr­zehn­ten gewon­ne­ne Lan­des­herr­schaft fes­tig­te er, indem er den Hoch­meis­ter­sitz 1309 nach Mari­en­burg ver­leg­te. Durch die Eta­blie­rung eines Rechts­sys­tems und einer effek­ti­ven Ver­wal­tung sowie durch die Ein­füh­rung von funk­ti­ons­tüch­ti­gen öko­no­mi­schen Struk­tu­ren – unter Ein­schluss einer eige­nen Münz­prä­gung – wur­de Preu­ßen dau­er­haft an die west­eu­ro­päi­sche Kul­tur ange­schlos­sen. – Seit dem spä­te­ren 19. Jahr­hun­dert wur­den die­se Leis­tun­gen des Deut­schen Ordens undif­fe­ren­ziert der „deut­schen“ Kul­tur zuge­rech­net und zuneh­mend der Recht­fer­ti­gung preu­ßi­scher Herr­schafts­an­sprü­che dienst­bar gemacht.

 

I/​​2 „Prus­sia Occi­den­ta­lis“ – Die Struk­tur des Gebiets ab 1454

Die­se Skiz­ze gibt das Ter­rain wie­der, das in Polen als „Pru­sy Kró­lew­skie“ (‚König­li­ches Preu­ßen‘) ver­traut ist. (Die eben­falls gebräuch­li­che latei­ni­sche Bezeich­nung „Prus­sia Occi­den­ta­lis“ soll­te kei­nes­wegs vor­schnell mit den deut­schen Vor­stel­lun­gen von „West-​​Preußen“ zusam­men­ge­bracht wer­den.) Der Name „Pru­sy Kró­lew­skie“ erin­nert an die mehr als 300-​​jährige Geschich­te der Regi­on im pol­ni­schen Staats­ver­band, denn von 1454 bis 1772 war das Land an der unte­ren Weich­sel mit der Pol­ni­schen Kro­ne ver­bun­den. Der „Bund vor Gewalt und Unrecht“, der „Preu­ßi­sche Bund“, zu dem sich 1440 in Mari­en­wer­der 19 Städ­te, unter ihnen Dan­zig, Elb­ing und Thorn, sowie 53 Adli­ge zusam­men­ge­schlos­sen hat­ten, kün­dig­te dem Hoch­meis­ter des Deut­schen Ordens 1454 den Gehor­sam auf und unter­stell­te sich statt­des­sen aus frei­en Stü­cken dem pol­ni­schen Mon­ar­chen als höchs­ter staat­li­cher Instanz. Durch die Uni­on von Lub­lin (1569) wur­de das „König­li­che Preu­ßen“ dann sogar zu einem inte­gra­len Bestand­teil der polnisch-​​litauischen Adels­re­pu­blik, der I. Rzeczpospolita.


Zwischenspiel: Die Zeit von 1772 bis 1878

Bei der Groß­macht­po­li­tik, die Russ­land, Öster­reich und Preu­ßen gegen­über der staats­po­li­tisch und mili­tä­risch geschwäch­ten polnisch-​​litauischen Adels­re­pu­blik betrie­ben, ver­folg­te Fried­rich II. vor­ran­gig das Ziel, eine Land­brü­cke zum öst­li­chen Preu­ßen zu schaf­fen. Dies gelang ihm mit der Unter­zeich­nung des Peters­bur­ger Ver­tra­ges im August 1772, durch den er den größ­ten Teil des König­li­chen Preu­ßen sowie den soge­nann­ten Netz­e­di­strikt mit der Stadt Brom­berg erwarb. Aus die­sen (noch gering­fü­gig erwei­ter­ten) Gebie­ten wur­de eine neue Pro­vinz gebil­det, die bereits 1773 vom König den Namen „West­preu­ßen“ erhielt. Im Rah­men der Zwei­ten Tei­lung Polens (1793) konn­te Preu­ßen auch noch die Städ­te Dan­zig und Thorn hin­zu­ge­win­nen. In die­ser qua­si abge­run­de­ten Form hat­te die neue Pro­vinz jedoch nur bis zum Jah­re 1807 Bestand. Nach der Napo­leo­ni­schen Zeit und dem Wie­ner Kon­gress wur­de sie zwar – ohne den Netz­e­di­strikt – resti­tu­iert, schon 1824 aber wur­de ihr Regie­rungs­sitz nach Königs­berg ver­legt, und 1829 ver­lor sie ihre Eigen­stän­dig­keit in toto, denn nun­mehr wur­de sie in die Ost- und West­preu­ßen ver­ei­ni­gen­de Pro­vinz „Preu­ßen“ ein­ge­glie­dert. Erst 49 Jah­re spä­ter erstand schließ­lich „West­preu­ßen“ mit sei­ner Pro­vinz­haupt­stadt Dan­zig aufs Neue. – Auf­grund die­ser ver­wi­ckel­ten Geschich­te hat das Land an der unte­ren Weich­sel ab 1772 man­nig­fach wech­seln­de Aggre­gat­zu­stän­de ange­nom­men, die für die Ter­ri­to­ri­al­ge­schich­te der Regi­on von erheb­li­cher Bedeu­tung sind. Die­se fein dif­fe­ren­zier­ten Ver­schie­bun­gen der Zuord­nun­gen und Abhän­gig­kei­ten wer­den des­halb auch im Rah­men der „His­to­ri­schen Kar­ten“ ver­deut­licht. Im Kon­text des inten­dier­ten makro­struk­tu­rel­len Ver­gleichs wür­de eine detail­lier­te Dar­stel­lung aber eher ver­wir­ren denn nüt­zen. Des­halb soll die­ser Pro­zess in die­sem Zusam­men­hang aus­ge­klam­mert bleiben.

 

II/​​1 Die Pro­vinz West­preu­ßen von 1878 bis 1920

Am Beginn der zwei­ten, vier­tei­li­gen Karten-​​Gruppe hält die­se Skiz­ze den Kul­mi­na­ti­ons­punkt der gesam­ten, 1772 ein­set­zen­den Ent­wick­lung fest und gibt zugleich die Kon­tu­ren der Gren­zen und der inter­nen Glie­de­rung in Stadt- und Land­krei­se wie­der, auf die sich alle Äuße­run­gen bezie­hen müs­sen, in denen nach 1920 unmiss­ver­ständ­lich von der his­to­ri­schen Pro­vinz West­preu­ßen gespro­chen wer­den soll.

 

II/​​2 Die ter­ri­to­ria­le Neu­ord­nung ab 1920

Schon ein flüch­ti­ger Blick auf die­se Kar­ten­skiz­ze gibt zu erken­nen, war­um West­preu­ßen zum Inbe­griff für die ein­schnei­den­den Ver­än­de­run­gen gewor­den ist, die das Deut­sche Reich nach dem Ende des Ers­ten Welt­krie­ges hin­neh­men muss­te; denn die ter­ri­to­ria­le Neu­ord­nung durch den Ver­sailler Ver­trag war für die­se Pro­vinz beson­ders fol­gen­reich. Die Pro­vinz­haupt­stadt Dan­zig und Tei­le ihres Umlan­des wur­den unter der Bezeich­nung „Freie Stadt Dan­zig“ zum Frei­staat erklärt. Die süd­west­li­chen Krei­se Schloch­au und Deutsch Kro­ne sowie der west­li­che Teil des Krei­ses Fla­tow bil­de­ten mit klei­ne­ren Rest­ge­bie­ten der bis dahin bestehen­den Pro­vinz Posen die „Grenz­mark Posen-​​Westpreußen“. In vier öst­li­chen Krei­sen – Mari­en­burg, Stuhm, Mari­en­wer­der und Rosen­berg – wur­de am 11. Juli 1920 eine Volks­ab­stim­mung durch­ge­führt. Da das ent­spre­chen­de Votum mit 92,4 % ein­deu­tig aus­fiel, blie­ben die­se Krei­se beim Deut­schen Reich. Sie gehör­ten nun zusam­men mit der Stadt und dem Kreis Elb­ing als „Regie­rungs­be­zirk West­preu­ßen“ zur Pro­vinz Ost­preu­ßen. Der größ­te Teil West­preu­ßens schließ­lich wur­de der Repu­blik Polen zuge­spro­chen und bil­de­te fort­an die „Woi­wod­schaft Pomor­ze“ (im Deut­schen: „Pom­me­rel­len“) mit der Haupt­stadt Toruń (Thorn). Durch die­sen „Kor­ri­dor“ wur­de Ost­preu­ßen vom Reichs­ge­biet abgetrennt.


Der Reichsgau Danzig-​​Westpreußen von 1939 bis 1945

Die Bestim­mun­gen des „Ver­sailler Dik­tats“ wur­den in Deutsch­land als unna­tür­lich und demü­ti­gend emp­fun­den. In den Fol­ge­jah­ren wan­der­te über eine Mil­li­on Deut­sche aus den pol­nisch gewor­de­nen Gebie­ten ab. Die dort Ver­blie­be­nen wur­den genö­tigt, bis 1925 die pol­ni­sche Staats­an­ge­hö­rig­keit anzu­neh­men. Das deutsch-​​polnische Ver­hält­nis blieb auch wei­ter­hin bri­sant, und die andau­ern­den Kon­flik­te lie­fer­ten spä­ter­hin dem natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deutsch­land will­kom­me­ne Argu­men­te, um den revi­sio­nis­ti­schen For­de­run­gen nach einer Rege­lung der Danzig- und Kor­ri­dorfra­ge Nach­druck zu ver­lei­hen. Nach dem Über­fall auf Polen mach­ten sich die neu­en Macht­ha­ber des­halb zügig dar­an, die annek­tier­te Regi­on wie­der dem deut­schen Herr­schafts­be­reich ein­zu­glie­dern. Bereits am 26. Okto­ber 1939 wur­de der – weni­ge Tage spä­ter in „Reichs­gau Danzig-​​Westpreußen“ umbe­nann­te – „Reichs­gau Dan­zig“ eta­bliert und einem „Reichs­statt­hal­ter“ unterstellt.

II/​​3 Der Reichs­gau Danzig-​​Westpreußen von 1939 bis 1945

Die­se Kar­te zeigt die Neu­ord­nung, die das Gebiet der Frei­en Stadt Dan­zig, den bis dahin ost­preu­ßi­schen Regie­rungs­be­zirk West­preu­ßen und den größ­ten Teil der 1938 ein­ge­rich­te­ten pol­ni­schen Woi­wod­schaft Groß­pom­me­rel­len zusam­men­fass­te. Dadurch wur­den dem „Reichs­gau“ im Süd­os­ten sogar die Krei­se Lip­no und Ryp­in zuge­schla­gen, die selbst vor dem Ers­ten Welt­krieg noch nicht zum Deut­schen Reich gehört hatten.

 

II/​​4 Die heu­ti­ge Woi­wod­schaf­ten an der unte­ren Weichsel

Als Abschluss der zwei­ten Fol­ge bil­det die Skiz­ze II/​​4 die – über meh­re­re tief­grei­fen­de Gebiets- und Ver­wal­tungs­re­for­men hin­weg erreich­te und seit dem 1. Janu­ar 1999 gel­ten­de – Auf­tei­lung des unte­ren Weich­sel­lan­des in die heu­ti­gen pol­ni­schen Woi­wod­schaf­ten ab. Die­se Kar­te ver­deut­licht ein­dring­lich, war­um „West­preu­ßen“, und zwar im strik­ten Unter­schied zu Pom­mern, Schle­si­en oder auch Ost­preu­ßen, auf heu­ti­gen Land­kar­ten kein Pen­dant mehr fin­det. Die­se Pro­vinz ist als in sich geschlos­se­ne Regi­on nicht mehr erkenn­bar, son­dern gänz­lich unter­ge­gan­gen: Sie bil­det zwar einen grö­ße­ren Teil von ‚Pom­mern‘ (Pomor­ze), aber auch die nörd­li­che Hälf­te von Kujawien-​​Pommern. Zudem gehö­ren die west­li­chen Krei­se Fla­tow (Zło­tów) und Deutsch Kro­ne (Wałcz) nun-​​mehr zu Groß­po­len bzw. West-​​Pommern; und die Krei­se Neu­mark (Nowe Mias­to Lubaw­skie) und Rosen­berg – mit der neu­en Kreis­stadt Iła­wa (Deutsch Eylau) – sowie vor allem die Stadt Elb­ing (Elbląg) sind jetzt der Woi­wod­schaft Erm­land und Masu­ren mit der Haupt­stadt Olsz­tyn (Allen­stein) zugeordnet.

Unge­ach­tet die­ses „Unter­gangs“ ist die Kon­tur der ehe­ma­li­gen Pro­vinz, die auch in die­ser Skiz­ze noch auf­taucht, aller­dings nicht bedeu­tungs­los gewor­den: Zum einen kenn­zeich­net sie einen deut­schen Erin­ne­rungs­ort für Men­schen, die aus die­ser Regi­on stam­men und für deren Fami­li­en die­ses Land oft jahr­hun­der­te­lang Hei­mat gewe­sen war. Ande­rer­seits mar­kiert die getön­te Flä­che einen his­to­ri­schen Zusam­men­hang, dem im heu­ti­gen Polen sogar wie­der stär­ke­re Beach­tung geschenkt wird. Da dem kul­tu­rel­len Erbe und der gemein­sa­men deutsch-​​polnischen Geschich­te ein wach­sen­des Inter­es­se ent­ge­gen­ge­bracht wird, bie­tet das frü­he­re West­preu­ßen für die heu­ti­gen Bewoh­ner durch­aus auch einen wich­ti­gen Orientierungsraum.


Gegensätzliche Leit-​​Bilder der nationalen Geschichtsdeutung

In ihrer Abfol­ge ermög­li­chen die sechs Kar­ten einen – wie auch immer ver­kür­zen­den – Schnell­durch­gang durch die Ter­ri­to­ri­al­ge­schich­te des unte­ren Weich­sel­lan­des. Dar­über hin­aus las­sen sie sich aber auch als hori­zon­ta­le Schich­tung von zwei „Frie­sen“ betrachten:

Der obe­re ver­an­schau­licht dann die domi­nie­ren­de deut­sche his­to­rio­gra­phi­sche Per­spek­ti­ve auf „West­preu­ßen“, wäh­rend die Fol­ge der unte­ren drei Skiz­zen die spe­zi­fisch pol­ni­sche Sicht­wei­se auf die ent­schei­den­den Ten­den­zen der regio­na­len Ent­wick­lungs­ge­schich­te wider­spie­gelt. An die Pro­zes­se, die jeweils in die­sen bei­den Schich­ten der Tafel exem­pla­risch fest­ge­hal­ten wer­den, hef­ten sich natio­na­le Nar­ra­ti­ve, die schwer­lich mit­ein­an­der kom­pa­ti­bel sein kön­nen. Umso drän­gen­der – und ver­lo­cken­der – erscheint es unter die­ser Vor­aus­set­zung, die ver­schie­de­nen „Erzäh­lun­gen“ wahr­zu­neh­men, zu dis­ku­tie­ren – und all­mäh­lich in eine über­grei­fen­de, mög­lichst vor­ur­teils­freie Bezie­hungs­ge­schich­te zu integrieren.