Zur Geschichte der Region
an der unteren Weichsel
Die unterschiedlichen territorialen Formationen, die sich historisch im Land an der unteren Weichsel herausgebildet haben, können in einem einführenden – und möglichst überschaubaren – Text nicht detailliert dargestellt werden. Stattdessen soll dieser Prozess anhand von nur sechs Kartenskizzen erschlossen werden, die jeweils einzelne Phasen dieser Entwicklung beispielshaft veranschaulichen.
- I/1 Das Territorium des Deutschen Ordens
- I/2 „Prussia Occidentalis“ – Die Struktur des Gebiets ab 1454
- Zwischenspiel: Die Zeit von 1772 bis 1878
- II/1 Die Provinz Westpreußen von 1878 bis 1920
- II/2 Die territoriale Neuordnung ab 1920
- II/3 Der Reichsgau Danzig-Westpreußen von 1939 bis 1945
- II/4 Die heutige Woiwodschaften an der unteren Weichsel
- Gegensätzliche Leit-Bilder der nationalen Geschichtsdeutung
Das erste Skizzen-Paar soll einen Überblick über die Vorgeschichte der nachmaligen Provinz Westpreußen ermöglichen.
Diese Karte gibt einen Eindruck vom Territorium des Deutschen Ordens, das im Wesentlichen der Ausdehnung der späteren Provinzen Ost- und Westpreußen entsprach. Mit kaiserlicher und päpstlicher Billigung begann der Orden 1231, das masowische Kulmerland und das Gebiet der Prußen östlich der unteren Weichsel zu erobern. Die in sieben Jahrzehnten gewonnene Landesherrschaft festigte er, indem er den Hochmeistersitz 1309 nach Marienburg verlegte. Durch die Etablierung eines Rechtssystems und einer effektiven Verwaltung sowie durch die Einführung von funktionstüchtigen ökonomischen Strukturen – unter Einschluss einer eigenen Münzprägung – wurde Preußen dauerhaft an die westeuropäische Kultur angeschlossen. – Seit dem späteren 19. Jahrhundert wurden diese Leistungen des Deutschen Ordens undifferenziert der „deutschen“ Kultur zugerechnet und zunehmend der Rechtfertigung preußischer Herrschaftsansprüche dienstbar gemacht.
Diese Skizze gibt das Terrain wieder, das in Polen als „Prusy Królewskie“ (‚Königliches Preußen‘) vertraut ist. (Die ebenfalls gebräuchliche lateinische Bezeichnung „Prussia Occidentalis“ sollte keineswegs vorschnell mit den deutschen Vorstellungen von „West-Preußen“ zusammengebracht werden.) Der Name „Prusy Królewskie“ erinnert an die mehr als 300-jährige Geschichte der Region im polnischen Staatsverband, denn von 1454 bis 1772 war das Land an der unteren Weichsel mit der Polnischen Krone verbunden. Der „Bund vor Gewalt und Unrecht“, der „Preußische Bund“, zu dem sich 1440 in Marienwerder 19 Städte, unter ihnen Danzig, Elbing und Thorn, sowie 53 Adlige zusammengeschlossen hatten, kündigte dem Hochmeister des Deutschen Ordens 1454 den Gehorsam auf und unterstellte sich stattdessen aus freien Stücken dem polnischen Monarchen als höchster staatlicher Instanz. Durch die Union von Lublin (1569) wurde das „Königliche Preußen“ dann sogar zu einem integralen Bestandteil der polnisch-litauischen Adelsrepublik, der I. Rzeczpospolita.
Zwischenspiel: Die Zeit von 1772 bis 1878
Bei der Großmachtpolitik, die Russland, Österreich und Preußen gegenüber der staatspolitisch und militärisch geschwächten polnisch-litauischen Adelsrepublik betrieben, verfolgte Friedrich II. vorrangig das Ziel, eine Landbrücke zum östlichen Preußen zu schaffen. Dies gelang ihm mit der Unterzeichnung des Petersburger Vertrages im August 1772, durch den er den größten Teil des Königlichen Preußen sowie den sogenannten Netzedistrikt mit der Stadt Bromberg erwarb. Aus diesen (noch geringfügig erweiterten) Gebieten wurde eine neue Provinz gebildet, die bereits 1773 vom König den Namen „Westpreußen“ erhielt. Im Rahmen der Zweiten Teilung Polens (1793) konnte Preußen auch noch die Städte Danzig und Thorn hinzugewinnen. In dieser quasi abgerundeten Form hatte die neue Provinz jedoch nur bis zum Jahre 1807 Bestand. Nach der Napoleonischen Zeit und dem Wiener Kongress wurde sie zwar – ohne den Netzedistrikt – restituiert, schon 1824 aber wurde ihr Regierungssitz nach Königsberg verlegt, und 1829 verlor sie ihre Eigenständigkeit in toto, denn nunmehr wurde sie in die Ost- und Westpreußen vereinigende Provinz „Preußen“ eingegliedert. Erst 49 Jahre später erstand schließlich „Westpreußen“ mit seiner Provinzhauptstadt Danzig aufs Neue. – Aufgrund dieser verwickelten Geschichte hat das Land an der unteren Weichsel ab 1772 mannigfach wechselnde Aggregatzustände angenommen, die für die Territorialgeschichte der Region von erheblicher Bedeutung sind. Diese fein differenzierten Verschiebungen der Zuordnungen und Abhängigkeiten werden deshalb auch im Rahmen der „Historischen Karten“ verdeutlicht. Im Kontext des intendierten makrostrukturellen Vergleichs würde eine detaillierte Darstellung aber eher verwirren denn nützen. Deshalb soll dieser Prozess in diesem Zusammenhang ausgeklammert bleiben.
Am Beginn der zweiten, vierteiligen Karten-Gruppe hält diese Skizze den Kulminationspunkt der gesamten, 1772 einsetzenden Entwicklung fest und gibt zugleich die Konturen der Grenzen und der internen Gliederung in Stadt- und Landkreise wieder, auf die sich alle Äußerungen beziehen müssen, in denen nach 1920 unmissverständlich von der historischen Provinz Westpreußen gesprochen werden soll.
Schon ein flüchtiger Blick auf diese Kartenskizze gibt zu erkennen, warum Westpreußen zum Inbegriff für die einschneidenden Veränderungen geworden ist, die das Deutsche Reich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges hinnehmen musste; denn die territoriale Neuordnung durch den Versailler Vertrag war für diese Provinz besonders folgenreich. Die Provinzhauptstadt Danzig und Teile ihres Umlandes wurden unter der Bezeichnung „Freie Stadt Danzig“ zum Freistaat erklärt. Die südwestlichen Kreise Schlochau und Deutsch Krone sowie der westliche Teil des Kreises Flatow bildeten mit kleineren Restgebieten der bis dahin bestehenden Provinz Posen die „Grenzmark Posen-Westpreußen“. In vier östlichen Kreisen – Marienburg, Stuhm, Marienwerder und Rosenberg – wurde am 11. Juli 1920 eine Volksabstimmung durchgeführt. Da das entsprechende Votum mit 92,4 % eindeutig ausfiel, blieben diese Kreise beim Deutschen Reich. Sie gehörten nun zusammen mit der Stadt und dem Kreis Elbing als „Regierungsbezirk Westpreußen“ zur Provinz Ostpreußen. Der größte Teil Westpreußens schließlich wurde der Republik Polen zugesprochen und bildete fortan die „Woiwodschaft Pomorze“ (im Deutschen: „Pommerellen“) mit der Hauptstadt Toruń (Thorn). Durch diesen „Korridor“ wurde Ostpreußen vom Reichsgebiet abgetrennt.
Der Reichsgau Danzig-Westpreußen von 1939 bis 1945
Die Bestimmungen des „Versailler Diktats“ wurden in Deutschland als unnatürlich und demütigend empfunden. In den Folgejahren wanderte über eine Million Deutsche aus den polnisch gewordenen Gebieten ab. Die dort Verbliebenen wurden genötigt, bis 1925 die polnische Staatsangehörigkeit anzunehmen. Das deutsch-polnische Verhältnis blieb auch weiterhin brisant, und die andauernden Konflikte lieferten späterhin dem nationalsozialistischen Deutschland willkommene Argumente, um den revisionistischen Forderungen nach einer Regelung der Danzig- und Korridorfrage Nachdruck zu verleihen. Nach dem Überfall auf Polen machten sich die neuen Machthaber deshalb zügig daran, die annektierte Region wieder dem deutschen Herrschaftsbereich einzugliedern. Bereits am 26. Oktober 1939 wurde der – wenige Tage später in „Reichsgau Danzig-Westpreußen“ umbenannte – „Reichsgau Danzig“ etabliert und einem „Reichsstatthalter“ unterstellt.
Diese Karte zeigt die Neuordnung, die das Gebiet der Freien Stadt Danzig, den bis dahin ostpreußischen Regierungsbezirk Westpreußen und den größten Teil der 1938 eingerichteten polnischen Woiwodschaft Großpommerellen zusammenfasste. Dadurch wurden dem „Reichsgau“ im Südosten sogar die Kreise Lipno und Rypin zugeschlagen, die selbst vor dem Ersten Weltkrieg noch nicht zum Deutschen Reich gehört hatten.
Als Abschluss der zweiten Folge bildet die Skizze II/4 die – über mehrere tiefgreifende Gebiets- und Verwaltungsreformen hinweg erreichte und seit dem 1. Januar 1999 geltende – Aufteilung des unteren Weichsellandes in die heutigen polnischen Woiwodschaften ab. Diese Karte verdeutlicht eindringlich, warum „Westpreußen“, und zwar im strikten Unterschied zu Pommern, Schlesien oder auch Ostpreußen, auf heutigen Landkarten kein Pendant mehr findet. Diese Provinz ist als in sich geschlossene Region nicht mehr erkennbar, sondern gänzlich untergegangen: Sie bildet zwar einen größeren Teil von ‚Pommern‘ (Pomorze), aber auch die nördliche Hälfte von Kujawien-Pommern. Zudem gehören die westlichen Kreise Flatow (Złotów) und Deutsch Krone (Wałcz) nun-mehr zu Großpolen bzw. West-Pommern; und die Kreise Neumark (Nowe Miasto Lubawskie) und Rosenberg – mit der neuen Kreisstadt Iława (Deutsch Eylau) – sowie vor allem die Stadt Elbing (Elbląg) sind jetzt der Woiwodschaft Ermland und Masuren mit der Hauptstadt Olsztyn (Allenstein) zugeordnet.
Ungeachtet dieses „Untergangs“ ist die Kontur der ehemaligen Provinz, die auch in dieser Skizze noch auftaucht, allerdings nicht bedeutungslos geworden: Zum einen kennzeichnet sie einen deutschen Erinnerungsort für Menschen, die aus dieser Region stammen und für deren Familien dieses Land oft jahrhundertelang Heimat gewesen war. Andererseits markiert die getönte Fläche einen historischen Zusammenhang, dem im heutigen Polen sogar wieder stärkere Beachtung geschenkt wird. Da dem kulturellen Erbe und der gemeinsamen deutsch-polnischen Geschichte ein wachsendes Interesse entgegengebracht wird, bietet das frühere Westpreußen für die heutigen Bewohner durchaus auch einen wichtigen Orientierungsraum.
Gegensätzliche Leit-Bilder der nationalen Geschichtsdeutung
In ihrer Abfolge ermöglichen die sechs Karten einen – wie auch immer verkürzenden – Schnelldurchgang durch die Territorialgeschichte des unteren Weichsellandes. Darüber hinaus lassen sie sich aber auch als horizontale Schichtung von zwei „Friesen“ betrachten:
Der obere veranschaulicht dann die dominierende deutsche historiographische Perspektive auf „Westpreußen“, während die Folge der unteren drei Skizzen die spezifisch polnische Sichtweise auf die entscheidenden Tendenzen der regionalen Entwicklungsgeschichte widerspiegelt. An die Prozesse, die jeweils in diesen beiden Schichten der Tafel exemplarisch festgehalten werden, heften sich nationale Narrative, die schwerlich miteinander kompatibel sein können. Umso drängender – und verlockender – erscheint es unter dieser Voraussetzung, die verschiedenen „Erzählungen“ wahrzunehmen, zu diskutieren – und allmählich in eine übergreifende, möglichst vorurteilsfreie Beziehungsgeschichte zu integrieren.