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Gottfried Achenwall – ein vergessener Staats- und Rechtswissenschaftler der deutschen Aufklärung
Vor 300 Jahren, am 20. Oktober 1719, wurde Gottfried Achenwall als Sohn eines Kaufmanns in Elbing geboren. Er besuchte dort Grundschule und Gymnasium, verließ die Stadt aber 1738, um in Jena, später in Halle und Leipzig, Philosophie, Rechts- und Staatswissenschaften und Geschichte zu studieren. Von 1748 bis zu seinem Tod am 1. Mai 1772 war er Professor an der Universität Göttingen. Obwohl seine Werke, die in zahlreichen Auflagen erschienen und Generationen von Studenten prägten, und obwohl selbst Kant sie seinen Königsberger Vorlesungen zugrunde legte, ist Achenwall heute nur noch wenigen bekannt − ein Grund, sich anlässlich der 300. Wiederkehr seines Geburtstages an den politischen Denker und Europäer aus Elbing zu erinnern und einen Blick in seine Schriften zu werfen.
Achenwalls wichtigstes Werk ist ein Lehrbuch, das er für seine Studenten ausgearbeitet hatte: die auf Lateinisch verfassten „Anfangsgründe des Naturrechts“ − Elementa iuris naturae −, die zwischen 1750 und 1781 in acht Auflagen erschienen und zu den einflussreichsten rechtsphilosophischen Schriften der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gehören. Die zentrale Idee von Achenwalls Naturrecht ist die Freiheit: die Freiheit des Willens und die Freiheit des Geistes. Um moralisch handeln zu können, um überhaupt schuld- und straffähig zu sein, müssen wir frei sein. Und wir müssen freien Gebrauch von unserem Verstand machen können. Aber die Freiheit ist nicht absolut, sondern immer in einen sozialen Kontext eingebunden. Wer gegen das Naturrecht, das heißt die unveräußerlichen Rechte anderer, verstößt, darf und muss daher gezwungen werden können, sich rechts- und gesetzeskonform zu verhalten.
Welches sind die unveräußerlichen Rechte? Es sind alle Rechte, die sich aus dem Grundrecht auf Selbsterhaltung ableiten, das heißt: das Recht auf Leben, auf körperliche und seelische Integrität sowie auf Handlungsfreiheit. Ein Recht auf Glück lässt sich aus dem Prinzip der Selbsterhaltung allerdings nicht begründen, sondern nur das Recht, durch andere keinen Schaden zu erleiden und in Freiheit sein Leben zu leben.
Achenwall unterscheidet zwischen absolutem und hypothetischem − man könnte auch sagen: relativem − Naturrecht. Das absolute Naturrecht umfasst dasjenige, was wir von Geburt aus erhalten haben und was unsere Person ausmacht: Leben, Integrität, Freiheit. Das hypothetische Naturrecht ist unser Recht auf Dinge, die wir erworben haben: es ist ein Recht an Sachen. Diese Unterscheidung zwischen absolutem und hypothetischem Naturrecht hat für Achenwall eine wichtige Konsequenz: Ich habe zwar ein Recht an Sachen, also auf Eigentum, aber kein Recht an Personen. Eine Person kann und darf nie für bestimmte Zwecke instrumentalisiert, darf nie zu einer Sache werden − auch nicht unter extremen Bedingungen wie denen des Krieges: Der Feind hört nie auf, eine Person, ein Mensch zu sein. Achenwall zeigt sich in dieser Beziehung als strikter Verteidiger unveräußerlicher Menschenrechte.
Gibt es für Achenwall ein Recht auf Eigentum? Ja, denn Achenwall weiß, dass die naturrechtliche Gleichheit der Menschen und ein daraus abgeleiteter naturrechtlicher Kommunismus nicht von langer Dauer sein können. Von Natur aus sind die Menschen nämlich nicht nur mit Vernunft begabt, sondern auch mit einem Begehrungsvermögen ausgestattet, das man durchaus als egoistisch bezeichnen kann. Aufgrund dieser Veranlagung wollen wir exklusive Rechte, also auch ein Recht auf Eigentum. Die Eigentumsrechte müssen aber vertraglich geregelt und in ein übergeordnetes gesellschaftliches Rechtssystem eingebettet werden, dessen oberstes Gesetz das Gemeinwohl ist. Das bedeutet für Achenwall aber nicht, dass die Gesellschaft von Gleichheit geprägt ist. Exklusive Rechte haben vielmehr Ungleichheit zur Folge. Die gesellschaftliche Ordnung, so Achenwall, ist eine ständische Ordnung.
Auch wenn Achenwall hier dem politischen Denken des „Ancien Régime“ verpflichtet bleibt, auch wenn er die Monarchie verteidigt, ist er zugleich ein vehementer Gegner des Despotismus. Die staatliche Herrschaft ist nicht unbegrenzt und darf nie total sein. Achenwall argumentiert daher für ein Recht auf Widerstand. Gegen den Tyrannen, der in seiner Sicht ein Feind des Rechts ist, dürfen die Bürger rebellieren − für diesen Gedanken sollte ihn später Kant loben.
Staaten haben, genau wie Personen, ein Recht auf Selbsterhaltung. Aus diesem Grund lehnt Achenwall Kolonialismus und Unterwerfung fremder Staaten ab. Analog zum Recht auf Eigentum gibt es das Recht eines Staates an seinem Territorium. Und so wie die Menschen im Staat in Frieden leben können sollen, so sollen es auch die Staaten untereinander können. Deshalb empfiehlt Achenwall nicht nur eine auf Friedenssicherung gerichtete Bündnispolitik, sondern − so in seinem zweiten wichtigen und mit fünf Auflagen ebenfalls sehr erfolgreichen Werk, der 1761 auf Deutsch erschienenen Staatsklugheit nach ihren ersten Grundsätzen entworfen − ein „allgemeines Europäisches Staatensystem“: also eine Europäische Union.
Welches sind die wichtigsten Ideen der erwähnten „Staatsklugheit“? Die Staatsklugheit ist für Achenwall eine Anwendung des Naturrechts, also der philosophischen Staatstheorie, auf konkrete Staaten. Sie ist eine Anleitung zu politischer Praxis, um den Staat, den Achenwall mit einer komplexen und komplizierten „Maschine“ vergleicht, gut lenken zu können. In diesem Zusammenhang führt Achenwall aus, was er unter dem abstrakten Begriff des Gemeinwohls versteht. Er entwirft ein umfangreiches sozialpolitisches Konzept, das medizinische, ja sogar psychotherapeutische Versorgung und Beschäftigungsprogramme einschließt. Doch zeigt er sich nicht nur als sozialer Politiker, sondern ebenfalls als entschieden liberaler politischer Denker: Er plädiert für die Freigabe des Getreidehandels und mahnt den Staat zu einer maßvollen und besonnenen Steuerpolitik, die die Freiheit der Bürger nicht einengt. Aber er ist in dieser Frage nicht nur liberal, sondern auch sozial eingestellt. Er entwickelt die Idee einer Steuergerechtigkeit und befürwortet das Prinzip einer Progression, demzufolge reichere Bürger höhere Abgaben zu entrichten haben.
In der „Staatsklugheit“ gibt Achenwall der Monarchie den Vorzug, aber er weiß der Demokratie durchaus viel abzugewinnen. Sie sei für kleine Staaten oder für Städte eine gute Regierungsform, denn sie komme dem natürlichen Gleichheitsstreben und der natürlichen Freiheitsliebe der Menschen optimal entgegen. Die Religion, insbesondere die protestantische, schätzt Achenwall als ein Band, das Staat und Gesellschaft zusammenhält. Aber er hat ein pragmatisches Verhältnis zum Protestantismus und verteidigt die religiöse Toleranz.
Neben der philosophisch-theoretischen Staatslehre und der praktischen Staatsklugheit entwickelte Achenwall eine wichtige dritte politische Disziplin: die Staatswissenschaft oder Statistik. Schon 1749 hatte er seinen Abriss der neuesten Staatswissenschaft veröffentlicht, der bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in sieben Auflagen erschien, zuletzt unter dem Titel Staatsverfassung der heutigen vornehmsten Europäischen Reiche und Völker im Grundrisse. Darin werden geographische und demographische Daten einzelner Länder, Angaben zum Bildungswesen und zur Religion, zur Wirtschaft und Politik präsentiert, kommentiert, verglichen und systematisch reflektiert. Es ist gewiss kein Zufall, dass Achenwalls Interesse zunächst der Statistik galt: Auf diese Weise schaffte er jene empirische und faktengestützte Grundlage, ohne die jede politische Theorie bloße Spekulation bleibt und praktische Politik ein unsicheres Geschäft.
Wolfgang Rother