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Westpreußen im „kollektiven Gedächtnis“
Verständigungspolitische Tagung 2018
der Landsmannschaft Westpreußen
Die deutschen Vertriebenen und die deutsche Volksgruppe in Polen stehen vor dem Problem, den längst überfälligen Generationenwechsel von der Erlebnis- zur Bekenntnisgeneration bzw. deren Nachfolgegeneration erfolgreich zu bewältigen. Diese Situation samt ihren verständigungspolitischen Konsequenzen wirklich ernst zu nehmen, ist eine dringende Aufgabe : Sollen die Erinnerungen der Flüchtlinge, Vertriebenen und Heimatverbliebenen sowie deren Archive auch künftig eine wesentliche Grundlage für die Begegnung und Verständigung zwischen Deutschland und Polen bilden, kann der Prozess des Bewahrens nicht allein von Institutionen oder Stiftungen bewältigt werden. Vielmehr bedarf es weiterhin und auf Dauer der Trägerschichten, die das Interesse an einer lebendigen Tradition kontinuierlich aus eigener Kraft pflegen.
Vor diesem Hintergrund hatte die Landsmannschaft Westpreußen (LW) zu ihrer verständigungspolitischen Frühjahrstagung vom 13. bis zum 15. April in Warendorf eingeladen. Unter dem Haupttitel Westpreußen im ‚kollektiven Gedächtnis‘ von Deutschen und Polen nahm die vom Bundesministerium des Innern finanzierte Konferenz verständigungspolitische Dimensionen bilateraler Geschichtspolitik und generationenübergreifender Formen des Erinnerns in den Blick. Da das Tagungsthema bilateral konzipiert worden war, wurde die Veranstaltung auch in enger Abstimmung mit Akteuren aus der Region, v. a. der deutschen Volksgruppe, realisiert. Bei seiner Eröffnung der Tagung konnte Ulrich Bonk, Bundesvorsitzender der LW, somit wieder zahlreiche Teilnehmer gerade auch aus dem Land an der unteren Weichsel begrüßen.
Nachdem Tagungsleiter Prof. Dr. Erik Fischer, Bundeskulturreferent der LW, in die Gesamtthematik eingeführt hatte, hielt der Ende vergangenen Jahres neu gewählte Bundesvorsitzende der Ost- und Mitteldeutschen Vereinigung (OMV) der CDU/CSU, Egon Primas MdL, den Eröffnungsvortrag über „Völkerverständigung und Bewahrung des Kulturerbes – aktuelle Herausforderungen für die deutsche Vertriebenenpolitik“. Es war dies sein erster öffentlicher Auftritt bei einem Vertriebenenverband in seiner neuen Funktion – und damit eine besondere Ehre für die LW. Als zentrale Herausforderungen, „denen sich die Vertriebenen und ihre Verbände organisatorisch und politisch stellen müssen“, denen sich jedoch „auch eine Politik stellen sollte, der die Anliegen dieser Gruppen am Herzen liegen“, nannte er : den „Erinnerungs- und Verantwortungstransfer“, die „Bewahrung des materiellen und immateriellen Kulturerbes durch die Kulturträger“, die „grenzüberschreitende Verständigung“ und „damit zusammenhängend, die wichtige Debatte zu einem modernen Heimatbegriff – und vielleicht sogar zu einer Identität, die sich grenzüberschreitend kulturell bestimmt“.
Mit seinem Vortrag steckte Primas im Sinne der leitenden Tagungsthematik nicht nur die Rahmenbedingungen und tatsächlichen Spielräume der Erinnerungsarbeit in Deutschland ab, sondern eröffnete zugleich eine Reihe von drei grundlegenden Vorträgen (auf die im unmittelbaren Anschluss zwei Workshops aufbauten). Für die beiden weiteren Grundsatzreferate hatten der Kulturwissenschaftler Alexander Kleinschrodt M. A., Bonn, sowie der Direktor der Martin-Opitz-Bibliothek (MOB), Herne, Dr. Hans-Jakob Tebarth, gewonnen werden können. Während Kleinschrodt kulturwissenschaftliche Grundbegriffe im Spannungsfeld zwischen „kommunikativem“, „kulturellem“ und „kollektivem Gedächtnis“ erläuterte und ihre „Bedeutung für verständigungspolitische Zugänge zur bilateralen Arbeit an der Geschichte“ herausstellte, gab Tebarth Einblicke in die konkrete Praxis des Sammlungs- und Archivwesens für die historischen deutschen Ost- und Siedlungsgebiete. Dabei richtete er seinen Blick über die Arbeit der – als zentrale „Bibliothek des deutschen Ostens“ gegründeten – MOB hinaus auf die spezifische Problematik der „verstreuten Archive einzelner Landsmannschaften“.
Die beiden folgenden Workshops kreisten um die virulenten Fragen, ob bzw. in welcher Form die „Geschichte“ der deutschen Minderheit im unteren Weichselland überhaupt dokumentiert wird und wo die Archive des kommunikativen Gedächtnisses verortet werden sollen bzw. dürfen – in Deutschland und / oder in den Herkunftsgebieten, mithin in Polen. Hierbei begegnen sich Vertriebene, die deutsche Volksgruppe und die in den Heimatgebieten lebende Polen mit ihren jeweiligen Bedürfnissen, eigenständig an der Geschichte ihrer alten bzw. neuen Heimat zu arbeiten. Wenn in den gängigen Debatten hierzu auch „nationale“ und „europäische“ Positionen oft schroff gegeneinander stehen, vermochten es sämtliche Impulsreferate, Podien und Publikumsdiskussionen, in großer Fairness und Ausgewogenheit sowohl den individuellen Bedürfnissen der Akteure Rechnung zu tragen als auch die Notwendigkeit eines kooperativen Miteinanders in der Erinnerungsarbeit herauszustellen.
Dies geschah im ersten Workshop unter Leitung von Prof. Dr. Erik Fischer mit Blick auf das „kommunikative Gedächtnis der deutschen Minderheit im unteren Weichselland“. Dabei diskutierten Benedikt Reschke vom Bund der Deutschen Bevölkerung in Gdingen, Bernhard Kolb vom Heimatkreis Stuhm, Ernst Kolander von der deutschen Minderheit in Schneidemühl sowie der LW-Bundesvorsitzende Ulrich Bonk über die Sammlung, Erschließung und Bewahrung von Dokumenten und „Geschichten“. Die komplementäre Perspektive eröffnete ein Workshop über die „zukünftigen Orte der landsmannschaftlichen Archive“ – am Beispiel des „Marienwerderzimmers“. Vom Verfasser dieses Berichts moderiert, erläuterten zunächst Karin Kaiser-Damrau und Hanno Schacht das Konzept, die Geschichte und die weiteren Perspektiven dieser Erinnerungsstätte im Alten Rathaus von Celle ; danach berichtete Dr. Justyna Liguz, die seit vielen Jahren eng mit dem Heimatkreis zusammenarbeitet, über das von ihr geleitete Kulturzentrum in der heutigen Stadt Kwidzyn, über die dort laufenden, beeindruckenden Sammlungs‑, Ausstellungs- und Forschungsvorhaben.
Die abschließende Einheit der Tagung – wiederum von einem Grundsatzvortrag und einem hierauf aufbauenden Workshop gebildet – vermochte es schließlich, die Fragen der klassischen Erinnerungsarbeit und Geschichtspolitik vor dem Horizont des „digitalen Zeitalters“ anzugehen. Der Geschäftsführer des Ressorts Strategische Partnerschaften im „Forum Internationale Wissenschaft“ der Universität Bonn, Björn Müller-Bohlen M. A., stellte die vielfältigen Möglichkeiten und Chancen der „neuen Medien“ als Beitrag zur historisch-politischen Bildung und öffentlichen Meinungsbildung vor. Hierbei ging es sowohl um zeitgemäße Formen journalistisch aufbereiteter Debatten als auch um die elektronische Vernetzung von Akteuren – gerade auch aus dem landsmannschaftlichen Umfeld. An seinen Vortrag über die „Zukunftsversprechen des Digitalen – sowie Risiken und Nebenwirkungen“ schloss der, gleichfalls von ihm geleitete, Workshop „Archiv-Baukästen des kommunikativen Gedächtnisses im Web 2.0“ an, in dem es darum ging, das bisher erörterte exemplarisch in der Praxis zu erproben. Als Beispiel diente die – in diesem Rahmen erstmals öffentlich präsentierte – neue Homepage der Landsmannschaft Westpreußen, die zum Westpreußen-Kongress hin freigeschaltet werden wird. Prof. Dr. Erik Fischer erläuterte dabei die unterschiedlichen Optionen, mittels dieser Plattform die Vernetzung und Zusammenarbeit aller Kräfte voranzutreiben, die sich an der Arbeit für Westpreußen engagiert beteiligen.
Die unterschiedlichen Beiträge der Tagung vermochten in ihrer Gesamtheit zu verdeutlichen, welchen erheblichen Herausforderungen sich die LW ebenso wie die Organisationen der deutschen Volksgruppe stellen müssen, wenn sie gleichermaßen eigene, gemeinsame und zeitgemäße Strategien einer Erinnerungspolitik entwickeln wollen, bei der individuelle Erfahrungen und Schicksale sowie die Bildung und Entwicklung von Interessengruppen aktiv im „kommunikativen Gedächtnis“ gespeichert und auch noch von nachfolgenden Generationen aktualisiert werden können. Zur Übernahme dieser zukunftsorientierten Aufgabe konnte die Tagung erste, wegweisende Impulse setzen.
Tilman Asmus Fischer