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Die Geschichte ‚entlügen‘
Westpreußen-Kongress 2017
Bundespräsident Roman Herzog hatte bereits vor vielen Jahren die Aufgabe formuliert, dass die Völker Europas alle miteinander ihre Geschichte „entlügen“ müssten. Dieser Herausforderung stellte sich die Landsmannschaft Westpreußen im Blick auf die deutsch-polnische Geschichte mit ihrem diesjährigen Westpreußen-Kongress. Dieser stand unter dem Titel Die Geschichte ‚entlügen‘ – Auf dem Weg zu einem friedlichen Miteinander und lockte vom 22. bis 24. September 2017 deutlich über 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach Warendorf.
Nachdem der Bundesvorsitzende Ulrich Bonk am Freitagabend den Kongress eröffnet und dabei für die Förderung der Tagung durch das Bundesministerium des Innern und (aus Mitteln der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien) durch das Kulturreferat für Westpreußen gedankt hatte, führte Bundeskulturreferent Prof. Dr. Erik Fischer als Tagungsleiter in die Thematik der Veranstaltung ein. Die Geschichte zu ‚entlügen‘ bedeute, auf alternative Erzählungen und Erzählweisen der gemeinsamen wie der geteilten Geschichte zu hören und hergebrachte Narrative in Frage zu stellen.
Einen wichtigen, ersten Impuls – und zugleich einen scharfsinnigen Einblick in die Herausforderungen, im Medienzeitalter über ‚Wahrheit‘ zu sprechen – gab der Einführungsvortrag von Prof. Dr. Bettina Schlüter. Die Direktorin der Abteilung „Digitale Gesellschaft“ im Forum Internationale Wissenschaft der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn sprach unter dem Titel Historische Wahrheit 2.0 über Geschichtskonstruktionen im analogen und digitalen Zeitalter. Diese stünden, aufgrund der Funktionsmechanismen digitaler Medien unter dem Einfluss einer wachsenden Ökonomie der Aufmerksamkeit ; Wissenschaft und Öffentlichkeit seien daher herausgefordert, problematischen Fehlentwicklungen, die sich mit dem Schlagwort „Fake News“ verbinden, aufgrund eigener medientechnologischer Kenntnisse und Erfahrungen klug entgegenzusteuern.
Der Blick auf das Eigene und das Andere
Die beiden Vorträge des Samstagvormittags untersuchten die historische Bedingtheit von Geschichts- und Identitätskonstruktionen im Neben- und Miteinander von Deutschen und Polen in den zurückliegenden Jahrhunderten, die das Bild des ‚Anderen‘ teils bis heute prägen.
Anhand des Mediums „Geschichtsbuch“ nahm Prof. Dr. Wolfgang Jacobmeyer, emeritierter Lehrstuhlinhaber für Neuere und Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte an der Universität Münster, deutsche Perspektiven auf Polen – und vor allem das Schicksal Polens im Zusammenhang mit den Polnischen Teilungen – seit Ende des 18. Jahrhunderts in den Blick. Er stellte die bis heute virulente Tendenz heraus, polnische Geschichte als „Rankenwerk“ deutscher Nationalgeschichte zu behandeln.
Die Neigung zur Marginalisierung Polens als historischer Größe auf deutscher Seite ließ sich gleichfalls in den „Identitätskonstruktionen und ‑zuschreibungen“ wiederfinden, die Prof. Dr. Hans-Jürgen Bömelburg, Gießen, für das Westpreußen der Jahre 1772 bis 1872 nachzeichnete. Für die Zeitspanne zwischen den Polnischen Teilungen und der Reichsgründung beschrieb der deutsche Co-Vorsitzende der Gemeinsamen Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission die unaufhaltsam scheinende Entwicklung vom Regionalismus zum Nationalismus.
Deutsch-polnischer Dialog über Diskurs-Figuren
In einem von Prof. Dr. Erik Fischer geleiteten Workshop hatten die Teilnehmer aus Deutschland und Polen Gelegenheit, im Anschluss an die vorangegangenen Vorträge über die Geschichte der Anderen – Diskurs-Figuren von Konflikten, Hierarchien und Partnerschaften zu diskutieren. Ausgehend von Karten-„Bildern“ verständigten sich die Gesprächsteilnehmer über Perspektiven auf Westpreußen, die durch historische Verwaltungsgliederungen – Provinz‑, Wojwodschafts- und Gau-Grenzen – mit langfristiger historischer Nachwirkung manifestiert werden. Abschließend kam mittels der Auseinandersetzung mit Hans Kysers Buch Lebenskampf der Ostmark die kritische Auseinandersetzung mit – zuweilen ebenfalls bis heute prägenden – nationalistischen Narrativen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Blick.
In einer parallelen Arbeitsgruppe referierte Dr. Katarzyna Pekacka-Falkowska, Thorn, über Die Pestwelle des Nordischen Krieges in Thorn.
Danzig und Marienburg – historische Orte mit komplexem Erbe
Mit Danzig und Marienburg wurden in zwei Vorträgen am Samstagnachmittag und Sonntagmorgen zwei historische Orte fokussiert, die in den zurückliegenden Jahrhunderten in besonderer Weise zu explizit deutschen Landmarken stilisiert wurden.
Wie polnisch war Danzig ? – Dieser Frage stellte sich zunächst PD Dr. Peter Oliver Loew in seinem Vortrag. Der stellvertretende Direktor in wissenschaftlichen Fragen des Deutschen Polen-Instituts, Darmstadt, entwickelte alternative Perspektiven auf die neuere Geschichte der Stadt und dekonstruierte dabei zugleich die Geschichtskonstruktion Danzigs als einer „urdeutschen“ Stadt. Diesem Konzept stellte er eine Spurensuche nach dem vielfältigen – aber zugleich von Assimilationstendenzen geprägten – Leben der polnischen Minderheit in Danzig gegenüber.
Mit der Marienburg im Spannungsfeld von „Geschichte, Erinnerung und Mythos“ setzte sich Christoph Kienemann auseinander. Nach einem kurzen Überblick über die Baugeschichte analysierte der Mitarbeiter der Arbeitsstelle Historische Stereotypenforschung am Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, wie sich die Marienburg im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem Wahrzeichen sowohl für deutsche Staatlichkeit in Nachfolge zum Deutschordensstaat als auch für eine deutsche, antipolnische „Kulturmission“ im „Osten“ wandelte und dabei in hohem Maße mythisch aufgeladen wurde.
Literarische Zugänge zur Geschichte der Vorfahren
In seiner programmatischen Vielfalt ging der Kongress auch in diesem Jahr über Fachbeiträge aus den Bereichen der Geschichts- und Kulturwissenschaft hinaus : Bereits am Samstagabend war literarisches Schaffen als mögliche Form des Erzählens alternativer Geschichte(n) zum Gegenstand erhoben worden – und dies nicht abstrakt, sondern in der Begegnung mit der Schriftstellerin Annette Pussert. Nach einer Lesung aus ihrem autobiografischen Roman Nord Nord Ost (2016) diskutierte sie zunächst mit dem Tagungsleiter und sodann mit dem Auditorium über literarische Verfahrensweisen der Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte.
Das Buch erzählt von der Spurensuche einer westpreußischen Kriegsenkelin in Elbing und dem Umland – von einer Spurensuche, die nicht nur als räumliche Suchbewegung auf Wegen in der alten Heimat, sondern zugleich auch als Nachspüren nach der Bedeutung der Familiengeschichte für die Erzählungen – und vor allem : das Schweigen – der Vorfahren sowie für die eigene Lebensgeschichte zu verstehen ist.
Wiederentdeckung einer Minderheit
Hatten sich die bisherigen Vorträge mit weißen Flecken deutscher und polnischer Geschichtsbilder von Westpreußen befasst, eröffnete Dr. Magdalena Lemańczyk, Danzig, den Blick auf ein Phänomen der Gegenwart, die Bevölkerungsgruppe der deutschen Minderheit in der Republik Polen. Aus soziologischer Perspektive referierte sie über Die Wiederentdeckung der Deutschen in Polen und die Entwicklung der deutschen Minderheit in den Wojwodschaften Pomorze und Pomorze Kujawy.
Dabei eröffnete sie dem Auditorium die Möglichkeit, den langen und beschwerlichen Weg der Deutschen und ihrer Organisationen nach der Zeit ihrer völligen Unterdrückung in der Volksrepublik über Phasen anhaltender Anfeindungen in den 1990er Jahren und allmählich wachsender Toleranz in der Mehrheitsbevölkerung bis in die gegenwärtige Lage hinein nachzuvollziehen. Diese sei, so das Resümee der Wissenschaftlerin, zwar von der Etablierung unterschiedlicher verbandlicher Aktivitäten, jedoch auch von strukturellen Defiziten – vor allem von einer deutlichen Überalterung unter den organisierten Deutschen – geprägt.
Plädoyer für einen offenen Dialog
Die Abschlussdiskussion mit Referenten und Teilnehmern bündelte den Ertrag der zurückliegenden Tagung und skizzierte die Perspektive einer weiterführenden Auseinandersetzung mit der gerade in Westpreußen intensiv zu beobachtenden deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte. Prof. Dr. Hans-Jürgen Bömelburg ermunterte den Kreis der Zeitzeugen und Heimatforscher zum verstärkten Dialog mit der universitären Osteuropaforschung. Dies bedeute freilich auch die Bereitschaft, eigene, überkommene Narrative und Geschichtsbilder in Frage zu stellen. Hieran anknüpfend, adressierte Prof. Dr. Bettina Schlüter diese Forderung nicht nur an die Erlebnisgeneration, sondern auch an die Vertreter der akademischen Geschichtswissenschaft. Auch diese sollten sich immer wieder vergegenwärtigen, dass ihre Positionen und Erklärungen gleichfalls kontextgebunden und nicht rein „objektiv“ seien.
Den begonnenen Dialog künftig fortzusetzen, kündigte Ulrich Bonk in seinem Schlusswort an. Auch im kommenden Jahr werde die Landsmannschaft Westpreußen wieder zwei größere Tagungen durchführen. Zu diesen lud der Bundesvorsitzende schon jetzt alle Interessierten herzlich ein.
■ Tilman A. Fischer