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Ein spannendes Experiment –
Der Westpreußen-Kongress 2021
Vom 24. bis zum 26. September fand unter dem Titel „Westpreußen“ nach dem definitiven Untergang der preußischen Provinz im Jahre 1920 der diesjährige Kongress der Westpreußischen Gesellschaft statt. Dass er als „spannendes“ Experiment bezeichnet wird, liegt zum einen an der wohl dauerhaft problematischen historischen Phase der Jahre von 1920 bis 1945, der er sich zugewandt hat; zum anderen aber daran, dass er als Online-Veranstaltung durchgeführt wurde. Diese Form ist durch die Zwänge der Covid-19-Pandemie seit dem letzten Jahr schon durchaus üblich geworden und wird von nahezu allen Organisationen als einzige Alternative zum völligen Abbrechen ihrer Außenaktivitäten gewählt. In den Kreisen der Westpreußen ist solch ein Angebot aber wohl immer noch ein gewagtes Unterfangen, so dass diese Tagung gerade in dieser Hinsicht von Beginn an – und bis zum Eingang der Evaluationsbögen – äußerst „spannend“ blieb.
Das Thema
Im Januar 1920 wurden die Bestimmungen des Versailler Vertrages umgesetzt, so dass in diesem Zuge auch die frühere Provinz Westpreußen aufhörte zu existieren. Gleichwohl bildet „Westpreußen“ bis heute – und jetzt somit schon seit mehr als 100 Jahren – einen für Deutsche wie für Polen äußerst wichtigen historischen Orientierungsraum, der jeweils mit schwerwiegenden Konflikten und traumatisierenden Erfahrungen verbunden ist. Dazu zählen insbesondere die Überführung großer Gebiete der preußischen Provinz als Teil des sogenannten „Korridors“ in das Staatsgebiet des wiederbegründeten Staates Polen sowie die „Wiedergewinnung“ Westpreußens durch den Überfall des nationalsozialistischen Deutschland auf Polen im September 1939 und die Errichtung des bis 1945 bestehenden „Reichsgaus Danzig-Westpreußen“.
Diese historischen Konstellationen rückte der Kongress dezidiert ins Zentrum seiner Fragestellung. Dies war insofern ungewöhnlich, als eine spezifisch „westpreußische“ Perspektive die Jahre von 1920 bis 1945 stets vor dem Horizont der anschließenden Phase von Flucht und Vertreibung in den Blick nähme und daraus ein argumentatives Gerüst zur Diskussion von Fragen gewänne, die sich dann um das Verhältnis z. B. von historischer Ursache und Wirkung oder um die Vergleichbarkeit und die Schweregrade von im Krieg begangenen Verbrechen drehten.
Dass sich dieser Kongress gerade an diesem Punkt um eine alternative Orientierung bemühen wollte, suchte der Tagungsleiter, Prof. Dr. Erik Fischer (Bonn), am ersten Abend zunächst einführend zu verdeutlichen. Er erläuterte die bis heute dominierenden deutschen und polnischen historiographischen Perspektiven auf „Westpreußen“, die einander diametral gegenüberstünden und zu nationalen Narrativen erstarrt wären und schwerlich miteinander kompatibel sein könnten. Daraus leitete er den Ansatz der Tagung ab, diese verschiedenen Erzählungen als „Erzählungen“ wahrzunehmen, zu diskutieren und vorurteilsfrei zu prüfen, ob sie nicht gerade auch in den problematischen, wenn nicht katastrophischen Phasen in eine übergreifende Beziehungsgeschichte integriert werden könnten.
Dieses methodische Konzept entfaltete daraufhin Dr. Katja Bernhard (Lüneburg) in ihrem Eröffnungsvortrag: Geschichte in Sippenhaft? – Von der Beharrlichkeit der Diskurse und der Widerständigkeit der Objekte. Dabei unterzog sie den Begriff des „Kulturerbes“, der in letzter Zeit gerne verwendet wird, um jenseits politischer Verstrickungen Gemeinsamkeiten zwischen Nationen zu gewinnen, einer eingehenden Kritik. Sie lenkte den Blick auf die Zeit der Entstehung der preußischen Provinz Westpreußen und damit auf jene Prozesse, in denen sich das Konzept eines deutschen Kulturerbes in dieser Region konstituierte. Von dort aus vermochte sie zu zeigen, dass diese Vorstellung nach 1920 in Polen weder einfach zurückgewiesen noch geradlinig übernommen werden konnte. Stattdessen sei sie vielmehr mit Vorstellungen einer spezifischen polnischen Kultur- und Kunstgeschichte zusammengeführt worden – mit Vorstellungen, die ihrerseits im langen, voraufgegangenen Jahrhundert konfiguriert worden wären und andere Bezugshorizonte gesetzt hätten.
Die Online-Präsentation
Die thematische Eröffnung des Kongresses ging mit technischen und strukturellen Einführungen einher, denn zu Beginn der Abendveranstaltung stellten sich den Teilnehmern, die vor ihrem Monitor einem YouTube-Kanal folgten, Alexander Kleinschrodt als „Moderator“ und die Verfasserin bzw. der Verfasser dieses Berichts als „Chat-Redakteure“ für die polnischen und deutschen Beiträge vor. An diesen zusätzlichen Akteuren zeigte sich bereits, dass ein Kongress, der im virtuellen Raum stattfindet, die seit Jahren vertraute Form der Westpreußen-Kongresse nicht unmittelbar im Internet abzubilden vermag, sondern deutlichen Veränderungen unterzogen werden musste.
Dazu gehörte auch die zeitliche Gliederung der Tagung. Neben einem Projekt-Abend am Samstag, der stärker auf die Präsentation und Interpretation von Bild- und Filmdokumenten hin angelegt war, fanden zwei kompakte Vormittagsveranstaltungen statt. Da vor der Tagung zu den geplanten sechs Vorträgen unterschiedliche Materialien auf einer zweisprachigen Arbeitsplattform der Kongress-Webseite angeboten wurden (und zur Nachbereitung auch noch weiterhin verfügbar sind), wurden die – jeweils drei – Beiträge an den Vormittagen nur verknappt referiert.
Die Einrichtung des „Korridors“ (1920–1939)
Dr. Jens Boysen (Warschau) begann diese Sektion mit Überlegungen zur Vermessung eines Korridors, die den historischen Raum der Zeit ab 1920 erschlossen und schilderte, wie „das untere Weichselland […] Teil des wiedererstandenen Staates Polen“ geworden ist. Zunächst wandte er sich der Vorgeschichte zu – beispielsweise der verkehrstechnisch und (militär-) geographisch begründeten polnischen Argumentation in Versailles, die durchaus auch mit Interessen an einer territorialen Kontrolle des unteren Weichsellandes einherging, oder die Bemühungen, durch die Berücksichtigung der Kaschuben den Anteil der Polen an den Zahlen der ethnischen Bevölkerungsstatistik zu erhöhen. Danach schilderte er eingehend die Prozesse der militärischen Übernahme und der nachfolgenden Einrichtung einer Zivilverwaltung, ging auf die Schwierigkeiten ein, eine ausreichende Zahl an polnischen Beamten für das neue Gebiet zu rekrutieren und zeigte, dass die preußische Gesetzgebung teilweise fortgeführt wurde und die Wojewodschaft Pomorze eine weitreichende Selbstverwaltung erhielt.
Die Korridorzeit nahm PD Dr. Beate Störtkuhl (Oldenburg) in ihrem Vortrag dann unter dem Aspekt Gdynia und Danzig – politische und architektonische Konkurrenzen an der Ostsee in den Blick. Sie erläuterte das Bemühen Polens, Gdynia zu einer höchst modernen europäischen Stadt zu entwickeln, sowie die Gegenkräfte der Danziger Architektenzirkel an der TH, die sich vehement gegen die „grau-weißen Klötze“ auf der polnischen Seite, aber auch gegen alle ambitionierteren Pläne aus der eigenen Zunft wandten. Dadurch entwarf sie ein plastisches Bild der Konfrontation zwischen der „Bastion der polnischen Ostsee“ auf der einen und dem „Bollwerk des Deutschtums“ auf der anderen Seite.
Zum Abschluss der Referate vom Samstagvormittag sprach Prof. Dr. Bettina Schlüter (Bonn) über das Thema: Eine unaufhörlich ‚blutende Wunde‘ : Der deutsche ‚Kampf um die Weichsel‘ während der Zwischenkriegszeit. Dank ihrem methodischen Ansatz eines Close Reading konnte sie an einem von Erich Wernicke 1927 verfassten Text, der den Titel Das Deutsche Westpreussen trägt, eine sprachliche Dimension kenntlich machen, die den fortdauernden Anspruch auf das Land an „beiden Ufern der Weichsel“ legitimieren soll. Dabei wurde durch die Analyse anhand zentraler Begriffe und Konzepte – ‚Kultur‘, ‚Naturalisierung‘ und ‚Grenze‘ – einsehbar, dass der „Untergang“ der „preußischen Provinz“ spezifische Redeweisen freisetzte, die von Beginn an auf eine „Transformation“ des nach 1919 eingetretenen Status Quo zielten.
Die Zeit des „Reichsgaus Danzig-Westpreußen“ (1939–1945)
Unter dem Obertitel Das ‚wiedergewonnene Gebiet‘ an der Weichsel referierte der Tagungsleiter, der diesen Part als „Lückenfüller“ übernommen hatte, über die „Errichtung des ‚Reichsgaus Danzig-Westpreußen‘“. Dabei folgte er der Prämisse, dass die historischen „Erzählungen“ zum Gegenstand der Betrachtung gemacht werden sollten, und bemühte sich deshalb, an einigen Beispielen das heute gesellschaftlich kodierte Bild des „Reichsgaus“ ikonographisch zu erschließen. Auf diesem Wege gelangte er zu der These, dass die Vorstellung einer historisch-territorialen Kontinuität „Westpreußens“ bis zum Jahre 1945 schwerlich aufrechtzuerhalten sei.
Einen zentralen Aspekt der revisionistischen Besetzung und Inbesitznahme des Weichsellandes diskutierte Dr. Martin Sprungala (Dortmund) in seinem Vortrag Von „Czersk“ nach „Heiderode“: Das Entfernen slawischer Sprachwurzeln 1942. Er schilderte, dass die Parteileiter im Rahmen der neu eingeführten Verwaltungsstruktur, die von der Partei dominiert wurde, nach Belieben schalten und walten konnten. In Danzig-Westpreußen seien die Umbenennungen nach einer zweijährigen Vorbereitungszeit der Verwaltung am 25. Juni 1942 – fast ein Jahr früher als im Wartheland – veröffentlicht worden und hätten nicht nur Dörfer und Städte, sondern auch die umliegende Geographie wie Wälder, Seen und die Feldflur betroffen. Dabei seien aber keine allgemeinen einheitlichen Regeln vorgegeben worden, vielmehr wären verschiedene, im Einzelnen erkennbare Prinzipien mit einer gewissen Beliebigkeit – und auch in Mischformen – zur Anwendung gekommen.
Zum Abschluss dieser zweiten Sektion referierte Dr. Magdalena Lemańczyk (Warschau) auf Polnisch über: ‚Nasi‘ (die Eigenen/Unseren) und ‚obcy‘ (die Fremden): Die Volkstumspolitik im Reichsgau. Sie erläuterte detailliert die Grundlagen der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik in Pommerellen und die dadurch hervorgerufenen grundstürzenden Verschiebungen. Schlussfolgernd gelangte sie zu der These, dass weder der Mythos des ewigen Deutschtums, der vor allem seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entstand, noch der spätere Nachkriegsmythos des ewigen Polentums der Wirklichkeit in diesen Gebieten entsprochen hätten, da sie zu keiner früheren Zeit monokulturell oder monoethnisch gewesen seien.
Einige Zeit nach dem Ende des Kongresses hat eine erfreulich große Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre Evaluationsbögen zurückgesandt. Dass die Chat-Angebote keinen adäquaten Ersatz für eine persönliche Diskussion bieten konnten und insgesamt auch eine Präsenzveranstaltung vorgezogen würde, deckte sich mit den Erwartungen – und den eigenen Empfindungen – der Veranstalter. Gleichwohl hat niemand ausgeschlossen, sich neuerlich für solch eine Online-Veranstaltung anzumelden: Letztlich lässt sich das gewagte Experiment somit zu Recht auch als gelungen bezeichnen.
■ Tilman Asmus Fischer / Joanna Szkolnicka